(3)

Und wird die Luft nicht immer dünner? Ist es auf den zivilisatorischen Gipfeln jenes gleichgültigen Fortschritts nicht immer kälter und einsamer um den Menschen geworden? Finden wir uns nicht schon in jenen ausdehnungslosen Zeit-Punkt verbannt? Wohin aber ist jene erfüllte, erlebte Zeit entschwunden, jener »Anblick des Augenblicks«, der Einbruch des Festlichen in den Alltag, der otio in die negotio, des Staunens in das Fraglosgewordene, der Anfangslust und des Aufbruchs in das Versteinerte ist? Finden wir uns, trotz oder vielmehr wegen jenes seltsamen virtuellen Beschleunigungswahns nicht in einem hektischen Stillstand, in einer entleerten Fülle, in freiem Fall? Ähneln wir, allen Spuren der Herkunft und der Zeit entledigt, nicht notwendig einem Schatten unserer selbst, der immer länger wird und uns aller realen Visionen beraubt? Können wir sicher sein, daß es uns noch gibt? Träumt uns kein Vischnu mehr, sondern ein befremdlicher Titan?

Den aus dem gewohnten chronos gefallenen, ganz vom kairos gefangenen Menschen bezeichnete man in den griechischen Anfängen des Abendlandes scheu mit dem morbus sacra. Doch wie soll man jenes aus der Natur desertierte bzw. verstoßene Menschenwesen bezeichnen? Der hochzivilisierte Mensch lebt zunehmend in einer »Gegenwart«, in der kein Gegenüber mehr zu »warten« scheint, wir im Grunde nichts mehr erwarten und uns nichts mehr erwartet. Weil und sofern der Mensch Herkunft und damit Zukunft verloren hat, hat er auch keine wirkliche Gegenwart mehr: »Wir schauen unserem Leben zu; wir leeren den Pokal vorzeitig und bleiben doch unendlich durstig (...) so empfinden wir im Besitz den Verlust, im Erleben das stete Versäumen...« (Hofmannsthal).

Ob dieser Ausstieg aus dem Kosmos Fluch oder Segen, eine selbstgewählte Verblendung oder ein verhängtes Geschick ist, scheint inzwischen eine fast zweitrangige Frage. Scheinbar ist es eine Verblendung, die jedenfalls noch über das hinausgeht, was wir von Oidipus kennen, der, verständlich nach all seinem Unglück, nichts mehr von der Welt sehen wollte und sich das Augenlicht nahm. Doch verstehen wir schon, was Hölderlin meinte, wenn er Oidipus' Selbstblendung mit dem Wort kommentiert: »Oidipus hatte vielleicht ein Auge zuviel noch«? Ahnen wir, daß man jenes »innere Auge« des Erinnerns, das Hölderlin hier im Sinn hat, am Ende nur bei Strafe der Verblendung und des eigenen Untergangs zu blenden vermag?

Doch Oidipus, so wird man einwenden, zerbrach daran, daß er das Rätsel der Sphinx löste, weil er also im Grunde mit zuviel Wahrheitsliebe geschlagen war. Nun aber, nachdem der Mensch nur noch vom Baum des Vergessens essen will, will man, wie es scheint, gerade diesen Sündenfall der Vergessenheit selbst - und gerade ihn - auch seinerseits noch vergessen. Die Wahrheit, die griechische alétheia, ist als privative Form von Lethe/Vergessenheit aber das Unvergeßliche...

Die Flucht in die Amnesie ist also aussichtslos und zum Scheitern verurteilt. Die paradoxe Wirklichkeit, wie sie nun, am Aschermittwoch unserer Heilsgeschichte, deutlicher wird, ist die, daß der Mensch sich selbst nur noch vergessen will - und doch seine Wahrheit als das Unvergeßliche niemals vergessen kann. Eine größere Verzweiflung ist bei genauerer Betrachtung kaum vorstellbar.

Vieles deutet darauf hin, daß wir unsere »furchtbare Vergangenheit« prügeln und im Grunde doch immer nur unsere Gegenwart meinen. Es ist nicht ernsthaft zu bestreiten, daß jeder Blick auf die Vergangenheit ein von der Gegenwart geprägter Blick ist, da Vergangenheit und Zukunft immer Projektionsflächen der lebenden, gegenwärtigen Menschen sind. Was ist überhaupt Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft? Kann unser Bewußtsein nicht von einem Abwesenden, einem geliebten Menschen, einem Verstorbenen, so erfüllt sein, daß dieses Abwesende und »Vergangene« für uns fraglos anwesend, also ganz präsent und gegenwärtig ist? Kann Fernes uns nicht ganz nahe sein - sowie uns Nahes zuweilen auch ganz fern bleibt?

Läßt sich erfahrene, erlebte Zeit überhaupt, wie man es sich angewöhnt hat, zerteilen, berechnen, instrumentalisieren? Erleben wir Gegenwärtigkeit/Anwesenheit tatsächlich, wie es eine technokratische Zeitauffassung nahelegt, als ein bloßes Verstreichen und Vorbeirasen von halt- und ausdehnungslosen Zeit-Punkten? Die Vergangenheit hinter sich lassen, um sich so ganz der Gegenwart oder einer weiteren glorreichen Zukunft zu öffnen - auch dieser Stoßseufzer bleibt ganz in den Irrtümern eines vordergründigen technischen Zeitbegriffs befangen.

Worum es geht, ist die Art und Weise, wie wir Zeit vergegenwärtigen, wie wir unser In-der-Zeitsein erfahren. Die alte augustinische Frage »Was ist Zeit überhaupt?« ist durch die vielen wissenschaftlich-technischen Fortschritte hinsichtlich der Zeitmessung, Zeitbewirtschaftung und Zeitausbeutung keineswegs überflüssig, nur akuter geworden. Fragt sie doch danach, wie und woher wir Erhellung und Auflichtung beziehen können, wenn es der Blick in eine trostlose Geschichte, die nach Benn alle Anzeichen einer Krankengeschichte trägt, oder die ernüchternde Wahrnehmung dessen, was der Fall ist, oder jene vollmundigen Verheißungen einer immer besseren Zukunft nicht sein können. Was ist Zeit, und was hat sich in unserer Erfahrungsweise, der Art des Vergegenwärtigens von Zeit verändert?

Vergegenwärtigung - das heißt für Augustinus noch: memoria/Erinnern. Das meint kein historistisches Zurückblicken, im Gegenteil, es meint gesteigerte Gegenwart und vertiefte Wahrnehmung, gleich, ob es zurück oder nach vorne blickt. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind Begriffe, die ihre Bedeutung allererst in der Erinnerung gewinnen. So wie Geschichte und Vergangenheit nur als erinnert existieren, so ist es auch mit dem Hoffen und der Zukunft, ja selbst mit jeder Form erfüllter Gegenwart.

Für Augustinus sind diese Zeitmodi gleichsam verschiedene »Blickrichtungen« unsere erinnernden Seele: die vergegenwärtigende Erinnerung der Zukunft als Hoffnung/Sorge, die vergegenwärtigende Erinnerung der Vergangenheit als Eingedenken/Andenken, die vergegenwärtigte Gegenwart als erfüllte, innige Wahrnehmung. Jede Form dieses Vergegenwärtigens bedarf des Erinnerns, ist selbst ein Akt des Erinnerns. Deshalb kennt die Amnesie auch keine Herkunft und Zukunft, vor allem aber auch keine wirkliche Gegenwärtigkeit. Denn gerade der ekstatische kairos kann keine Leistung der Amnesie sein, er scheint vielmehr ein von besonders weither auf uns zukommendes und besonders verzauberndes Erinnern zu sein. Die Natur und die Kinder, die Schaffenden und Liebenden kennen keine Uhrenzeit. Man kann sogar sagen, das Leben ist in dem Maße mehr bei sich selber, je mehr es diese vergessen kann und tatsächlich vergißt. Jene erlebte oder erinnerte Zeit, die nicht uns, sondern der wir zuletzt gehören, umfaßt noch ganz andere Wirklichkeiten.

Damit will Augustinus die Zeit des Werdens und Vergehens, unsere begrenzte Lebenszeit und den Tod keineswegs infragestellen, im Gegenteil. Nur wo eine Ahnung von Endlichkeit und Abwesenheit - und des Anwesens des Abwesenden - ist, dort gibt es auch eine Erfahrung von Nähe, der Würde jedes Dings. Dies merkt selbst der Vergeßlichste daran, daß wir altern, daß alles Leben Aufgang, Hochzeit und Abstieg kennt, daß dem Kind Zeit und Dasein noch ganz anders begegnen als dem Greis. Die Lebenszeit erscheint der Kindheit und Jugend, wie Schopenhauer einmal bemerkt, so erfüllt, endlos und nah , als schaue man durch ein Vergrößerungsglas, dem Greis aber so entfernt, geschrumpft und abstandslos, als habe man das Sehrohr kurzerhand umgedreht. Genau in dem Maß wie Zeit außerhalb und unabhängig von unserem Bewußtsein und den technischen Versuchungen der Zeit-»Beherrschung« Wirklichkeit und Macht hat, eröffnet sie uns auch ihre Spielräume.

Stellen wir uns nur eine Musik ohne Erinnern, Töne ohne einen Widerhall in der Seele vor - es wäre eine endlose, auf der Stelle stampfende Folter, ein entsetzlicher Ausstand ohne kairos. Solchem machinalen Stampfen begegnen wir dort, wo Gegenwart, abgeschnitten von Herkunft und Erinnern, zu einem bloßen physikalischen Zeit-Punkt schrumpft. Andererseits können wir von einer meisterhaften musikalischen Phrasierung, einem beseelten Erinnern, mehr über das Geheimnis von Zeit und Präsenz erfahren als in Physik- oder Geschichtslehrbüchern, etwas vom ekstatischen Einbruch jenes Augenblicks etwa, der, um ein Stück Anfang zurückzuholen, noch alle festgefügten Ordnungen und Gewohnheiten unterläuft, ja verlacht.

»In der Existenzweise des Habens ist der Mensch an das gebunden, was er in der Vergangenheit angehäuft hat: Geld, Land, Ruhm, sozialen Status, Wissen (...) Er ist die Vergangenheit. Er kann sagen: 'Ich bin, was ich war' (...) Das Erlebnis des Liebens, der Freude, des Erfassens einer Wahrheit geschieht nicht in der Zeit, sondern im Hier und Jetzt (...) Die Existenzweise des Seins gibt es nur im hic et nunc«, notiert Erich Fromm. Zweifellos leben wir in einer Zivilisation, die auf abgründige Weise von der Rüstung »des Habens« und mithin auch zwangsläufig von einem Wettlauf gegen diese erinnerte, erfahrene Zeit geprägt ist.

Die technische Zivilisation hat den Zeitspielraum des Erinnerns, das erfüllte Vergegenwärtigen verloren und stattdessen eine abgründige Besessenheit vom Zählen und Berechnen inthronisiert, wie sie den modernen Historiker ebenso kennzeichnet wie die arithmetische Demokratie, die digitale Virtualisierung der Welt, die »exakten« Wissenschaften ebenso wie die Ökonomie oder die Logik der Börsenwelt. Der Aberglaube der Zahl aber mündet in jenem kleinsten gemeinsamen Credo der Erschöpften: »Zeit ist Geld - und Geld regiert die Welt!« - auch wenn es sie nur ruiniert.

So kehren die Zeitparadoxien im zeit- und raumüberwindenden Cyberdasein nur verdoppelt und gebrochen zurück: Das Vergangene ist nicht wirklich durch Wissenschaft »zu entsorgen«, ist nicht vergangen und reicht, nunmehr als wachsende Befremdung und Last, mächtig in eine Gegenwart, die jener ars memoria immer abgründiger entsagt, des Vergegenwärtigens müde geworden scheint. Die Zivilisation hat, so scheint es, das Erinnern vergessen - eine titanische Leistung!

Jakob Taubes hat darauf hingewiesen, daß im Hebräischen das Gedenken etymologisch mit dem Männlichen, das Vergessen mit dem Weiblichen verwandt ist. Vielleicht gilt diese Beobachtung aber besonders für solche historischen Schriftreligionen, die mehr an eine verordnete Gesetzestreue als an ein ganz unveräußerliches, unmittelbares und auch unübertragbares Erinnern appellieren. Diese Urszene universellen Sein-Erinnerns schildert Sokrates im Phaidros. Sie ist allerdings nicht festzuschreiben, zu berechnen oder anzubinden. Die immer nur im Vollzug ihrer selbst zu aktualisierende Seinserinnerung ist sozusagen das, was uns auch dann noch unvergeßlich bleibt, wenn uns alles in Vergessenheit geraten ist. Sie ist also überaus aktuell.

»Überall, wo Philosophieren versucht wird«, gibt Hans-Georg Gadamer zu bedenken, »geschieht Seins-Erinnerung. Trotzdem gibt es, wie mir scheint, keine Geschichte der Seinserinnerung. Erinnerung hat keine Geschichte.« Noch immer geht es um jenes »innere Auge«, das man am Ende nur um den Preis der Selbstblendung vor sich selbst verschließen kann. Und doch: Wie man Fische nicht ertränken kann, so können wir das Erinnern nicht vergessen.



© HD Jünger / Erstabdruck SCHEIDEWEGE 10/2001

<< zum Textanfang
< zurück