Am Ende der Heilsgeschichte

Ein zeitgemäßes kalifornisches Sprichwort sagt, daß die Geschichte heute, analog den inzwischen allein maßgeblichen wirtschaftlich-technischen Produktions- und Innovationszyklen, die letzten fünf Jahre umfaßt. So kurz ist das Gedächtnis geworden, zumindest dort im äußersten Westen, wo dieser, mit einem Bild Durs Grünbeins, »so abrupt endet wie ein Flugzeugträger (...) und in Amnesie untergeht«.

Tatsächlich schwindet der mit der Gegenwart mitwandernde Vergangenheitshorizont in einem atemberaubenden Tempo. Führten Menschen einst ihre Ahnenreihe über viele Generationen und Jahrhunderte zurück, so bestimmen heute, zumehmend global, jene kalifornischen Fünf- oder Zweijahrespläne, entsprechende Lebensplanungen und ständig im Umbruch begriffene Daseinsentwürfe das Maß der Überlebenstechnik. Ist die Wiedervereinigung uns nicht ebenso ferngerückt wie die Oktoberrevolution oder auch das vor wenigen Monaten erst auf den Kehrichthaufen einer kaum noch existenten Geschichte gefegte Millenniumsdekor? Tschernobyl, Hiroshima oder das Klonschaf Dolly - es scheint ebenso nah oder fern, im Bewußtsein eingeebnet wie die Tatsache, daß die Welt im Netz noch keine zehn, Retortenkreaturen noch keine fünf Jahre den zivilisatorischen Fortschritt nachdrücklich unter Beweis stellen.

Das kalifornische Sprichwort erscheint da beinahe als Untertreibung. Die Zeit vergeht und verflüchtigt sich offenbar nicht nur rascher als wir wahrnehmen können - sie scheint mitunter in ihrem Charakter verwandelt, auf seltsame Weise aufgehoben zu sein. Daß wir mit unserem Fortschritt nicht mehr Schritt halten, ist ja seit längerem zu beobachten. Daß es aber vielleicht längst nicht mehr um eine bloße Beschleunigung auf der Basis des Gewohnten, sondern um ganz neue Aggregatzustände und Lebensformen überhaupt geht, daß wir uns mit einer Art »rasenden Stillstand« konfrontiert sehen, beginnen wir erst nach und nach zu ahnen.

Vor diesem Hintergrund erscheint es reichlich hilflos, wie es beim zurückliegenden Millenniumsrummel noch häufig zum guten Ton gehörte, von der »Last« des Erinnerns oder der Vergangenheit zu sprechen, einem »überfälligen Abschied von der Geschichte« das Wort zu reden. Das Gegenteil scheint virulent, eine rapide, ja gespenstig voranschreitende Amnesie die Menschen ergriffen zu haben. Wir wissen inzwischen, daß die technische Überwindung von Entfernungen, Zeit und Raum noch keine Präsenz und neue Nähen schafft, eher schon, wie Skeptiker angesichts der geschwindigkeitsbesessenen Netztechnologien beobachten, eine seltsame Abstandlosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber allem und jedem. Wo uns alles gleich nah, oft zu nah rückt, rückt uns nur zwangsläufig allzu vieles gleich fern.

Hat uns die neue Religion des globalen Ökonomismus, dessen Geldströme 24 Stunden am Tag unablässig um den Globus fließen müssen, um pausenlos jenem neuen Gott des Geld heckenden Geldes zu opfern, nicht auf einschneidende Weise von jeder gewachsenen Tradition und Kultur, ja von jedem zweckfreien Andenkenraum abgeschnitten? Erleben wir inmitten eines wachsenden Gehäuses der Hörigkeit nicht eine beispiellose Uniformierung von Differenz und langhin gewachsener Kulturen, ein Verschwinden der letzten Refugien des Unverfügbaren und Unvernutzbaren? Findet vor unseren Augen gar eine Art Entkernung, Um- und Neuprogrammierung des Menschen im Zeichen einer totalen Technokratie statt? Die unbemerkte Entwertung des Wortes durch die Zahl, die »Befreiung« vom Gespräch, vom Fragen und vom Sinn des Fragwürdigen, von einem Dasein in Raum und Zeit überhaupt - also von uns selbst?

Es ist zwar gar nicht zu bestreiten, daß viele Unglückskapitel der Menschheitsgeschichte im Namen retrospektiver Mythologien, der Geschichte und glorreich verklärter Vergangenheiten geschrieben wurden: die Religionskriege im Zeichen des Kreuzes oder des Halbmondes etwa, oder die ungezählten Stammes- und Nationalschlachten. Dieser Befund belegt aber bei näherer Betrachtung nur, daß der Mensch in seiner Vergangenheit und Geschichte - sieht man, bezeichnenderweise, einmal von den sogenannten »vorgeschichtlichen« Kulturen ab - niemals Hilfe oder gar Heil gefunden hatte, er hat dies ja immer nur gesucht. Was man in der vor-geschichtlichen Existenzweise schon immer wußte und heute wieder zu ahnen beginnt, hatte die christliche Heilgeschichte und insbesondere der euphorisch fortschrittsgläubige Historismus des bürgerlichen Zeialters nur vorübergehend vergessen machen können.

Weniger anthropozentrische, vergleichsweise naturverständigte Kulturen kannten zwar eine kreisende, in sich zeitlose Zeit, allerdings noch keine Geschichtszeit, jedenfalls nicht als »heilsgeschichtliche« Zeit. Sie hielten die kuriosen Machenschaften, die wir uns angewöhnt haben, Geschichte zu nennen, kaum für überlieferungswürdig. Geschichte galt lange - wie auch heute wieder immer unabweisbarer wird - als ein Resultat der Verkettung von Zufällen, an deren Ende immer etwas anderes, oft das Gegenteil dessen stand, was die Akteure sich erhofften. Historismus, so drängt sich heute auf, war und ist der Versuch einer nachträglichen Sinngebung des Sinnlosen, jenes Märchen, an das die Aufgeklärten glaubten.

Besonders der jüdisch-christlichen Tradition war es vorbehalten, die Menschengeschichte unter anthropozentrischem Vorzeichen religiös zu überhöhen, ja sogar das Mysterium einer »Erlösung« in die Geschichte zu verlagern: Die Genesis als Geburtsstunde des Utopismus, der christliche Menschengott schließlich als anthropozentrische Selbstermächtigung, als Legitimation des Griffs des Menschen nach Weltherrschaft, ja nach dem Kosmos. Doch »Erlösung« wovon? Natürlich, paradoxerweise, von eben dieser heillosen Menschengeschichte selbst. In eben diesem Paradox zeigte sich ein Wahrheitssinn, wofür der spätere gänzlich säkulare Geschichtsutopismus der Neuzeit kein Verständnis mehr aufzubringen vermochte.

Nietzsches Seufzer »Tausend Jahre Christentum - und kein einziger neuer Gott!« mag im Rückblick nur allzu berechtigt sein. Doch erst der aufgeklärte Geschichtsmensch der Neuzeit, der außer sich selbst keinen anderen Gott mehr kannte oder gar anerkannte, entpuppte sich vollends als hoffnungsloser - und tragischer -Narziß. In Hinblick auf diesen epochalen Wandel vom kosmischen Mythos zum geschichtlichen Logos - und damit von der unverfügbaren zyklischen zur verfügbar gemachten geschichtlichen Zeit - bemerkte Karl Löwith in seiner Kritik der geschichtlichen Existenz:

»Vom Zufälligen gibt es (...) keine philosophische Wissenschaft, und darum haben die griechischen Philosophen Recht gehabt, wenn sie die Geschichte den Historikern überließen und keine Geschichtsphilosophie erdachten (...) Wo immer die wechselvollen Geschicke der Geschichte wahrhaft empfunden wurden (...) war die Einsicht in die Unzuverlässigkeit und Hinfälligkeit aller menschlichen Dinge die letzte Weisheit des Historikers«. Mit Blick auf die Verchristlichung der Welt aber spricht Löwith von »einer Verkehrung« dieser natürlichen Proportionen von Welt und Menschenwelt, in deren Verlauf die menschengemachte Geschichte plötzlich zum Heilsgeschehen wird: »Der übermenschliche physische Kosmos gerät in Vergessenheit, und die Welt wird von Grund auf vermenschlicht. Die Welt wird zur Menschenwelt. Zugleich mit diesem Schwund der Welt verflüchtigt sich die menschliche Natur in eine geschichtliche Existenz«.

Für Cioran ist diese abendländische Geschichte, die in weiten Teilen im Zeichen dieser jüdisch-christlichen Heilsgeschichte und Erlösungserwartung steht, nur »ein Luxus, ein Zwischenspiel, eine Verirrung« gewesen: »Indem er sie hervorbrachte und seine Substanz in sie investierte, hat sich der Mensch verausgabt, vermindert, geschwächt.« Gewiß ist der Mensch ebenso sehr Opfer wie Täter dieser Geschichte gewesen, ungewiß ist, ob er vom damit einhergehenden Fortschritts- und Machbarkeitswahn und jener bodenlosen Selbstüberhebung je geheilt werden könnte. Einstweilen macht er weiter, wenn auch vielleicht nur deshalb, wie Cioran vermutet, »weil er nicht die Kraft hat, zu kapitulieren, seine Flucht nach vorn (nichts anderes ist die Geschichte) aufzugeben, weil er einen Automatismus im Verfall erworben hat (...) Indem er sich selbst zunehmend durchschaubar wird, kann er nichts mehr unternehmen, nichts mehr 'erschaffen': ein Versiegen mangels Blindheit, durch Vernichtung der Naivität.«

Der Preis für diese finale Befreiung von einer unheilvollen Heilsgeschichte kann freilich kein geringer sein: »Von der Last der Geschichte befreit, wird der Mensch auf dem Gipfel der Erschöpfung (...) bloß noch über ein leeres Bewußtsein verfügen (...) ein enttäuschter Troglodyt, ein vollkommen ernüchterter Troglodyt.« Der vollendete Höhlenbewohner also, für den aber, anders als in Platons Politeia-Mythos, nicht mehr die Dingwelt ihre Schattenbilder auf die Höhlenwände wirft, sondern seltsame Artefakte dessen, mathematisch digitalisierte Zeichen, Schatten von Schatten also alle Aufmerksamkeit beanspruchen.

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