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Die Dionysos geweihten Kulte - vor allem die Lenaia und großen Dionysien, aber auch der eleusische und delphische Kult - weisen deshalb nicht zufällig auf eine enge Bindung an die chtonische Fruchtbarkeits- und Muttergottheit Demeter einerseits, sowie an den Sonnengott Apoll andererseits. Dionysos' Besonderheit scheint zu sein, daß er das fruchtbar-vegetative Leben dieser weiblichen Erd- und Wachstumskräfte mit dem Lichten, Durchwärmenden und Zeugenden des männlichen Sonnengotts verbindet - so wie das Zusammenwirken beider Elementarkräfte auch erst die Weinrebe, Dionysos' angestammtes Symbol, gedeihen und fruchten läßt. Er verbindet den Rausch mit dem Luziden, Erde und Himmel, Weibliches und Männliches, Mensch und Tier. In der gemeinsamen Apoll-Dionysos-Verehrung wird dieser Einheit nachdrücklich Respekt erwiesen, worin Otto die "erhabenste Höhe" der griechischen Religion erkennt, da dort, "wo andere trennten und verdammten", hier stattdessen die "gegenstrebige Vereinigung" (Heraklit) nicht verleugnet, sondern sogar überaus produktiv werden konnte.

Dionysos ist die bleibende Quelle der Werdelust auch oder gerade in der Nacht - so erfährt ihn Hölderlin in seinem BROD UND WEIN-Gesang: "Darum singen sie auch mit Ernst, die Sänger, den Weingott / Und nicht eitel erdacht tönet dem Alten das Lob./ Ja! sie sagen mit Recht, er söhne den Tag mit der Nacht aus, / Führe des Himmels Gestirn ewig hinunter, hinauf, / Allzeit froh, wie das Laub der immergrünen Fichte, / Das er liebt, und der Kranz, den er von Efeu gewählt, / Weil er bleibet und selbst die Spur der entflohenen Götter / Götterlosen hinab unter das Finstere bringt..." Dionysos ist für Hölderlin also der zu allen Zeiten jäh nahende Gott des übergänglichen Aufgangs, dessen Anblick und Gegenwart uns an jenem Rätsel des sich grundlos verschenkende und in den Ursprüngen erneuernden Daseins teilhaben läßt.

Dionysos ist, darauf hat F.G. Jünger hingewiesen, deshalb immer auch die Umkehr, das Revoltierende, Rebellische, Aufständige, die jähe Wende der Zeit: "Deshalb ist es der Umwerfer und bringt den Menschen aus dem Stand, verkehrt und verrückt ihn... Umwerfer ist er, weil er sich jäh, plötzlich, überraschend geltend macht, den Menschen verwandelt und den Widerstand zerbricht, der ihm geleistet wird. Dieser Widerstand stützt sich auf die Zeitlichkeit des Menschenlebens, auf sein zeitliches Gerüst, das in Gesetzen, Regeln und festen Gewohnheiten wirksam ist, in Sitte und Brauch, im Rhythmus des Tages und Jahres. Dieses alles, dieses nach den Abmessungen der Zeit geordnete und in sich gefestigte und beruhigte Leben stößt plötzlich auf den Widerstand des Gottes, der sich als Rasender, aus der unergründlichen Tiefe seines Wahnsinns dagegen auflehnt und es zu Fall bringt... Wenn der Umwerfer kommt, wenn er die Umkehr beginnt, dann zerreißt er die Webe der Zeit, dann wird die auf ihr beruhende Ordnung und der Sinn, den sie hat, nichtig; sie sind nur noch Schemen, die wie flüchtiger Rauch in den Lüften zergehen. Dann wird das zeitlich geordnete, am Faden der Zeit abgesponnene Sein leer und inhaltlos, und es beginnt das Fest des Dionysos, der die Zeit wendet..."

Dionysos und Demeter Und dieses Fest zeigt nicht zuletzt, daß der Tod über diesen Gott keine Macht hat, daß im Gegenteil "die Grenzen gegen den Hades aufgehoben werden, daß das in sich abgesonderte dunkle Totenreich verschwindet und einbezogen wird, daß Lebende und Tote im Fest eins werden... Trunkenheit ist die Entsprechung des Überflusses, der in dem Augenblick eintritt, in welchem der Mensch der Zeit ledig wird und sein Selbst vergißt... Ohne Aufhebung der Zeit wird der Mensch nicht festlich, und er hebt die Zeit nicht auf, ohne die Grenzen des Totenreichs zu beseitigen... Dionysos, der die Zeit wendet, ist der sich wandelnde, die Menschen verwandelnde Gott..."

Daß ausgerechnet Ernst Jünger in seinen letzten Tagebucheintragungen Dionysos "vom Olymp herunterholt", ist für einen so weit ins Vorolympische reichenden Gott keinerlei Sakrileg. Daß er ihn allerdings in die Nähe einer "titanischen Moderne" rückt, überrascht einigermaßen. Hölderlins "Brod und Wein"-Gesang nennt Dionysos jedenfalls keineswegs, wie der kurz vor seinem Tod zum Katholizismus konvertierte E. Jünger meint, als eine "Interims"-Gottheit, im Gegenteil: "Weil er bleibet und selbst die Spur der entflohenen Götter/ Götterlosen hinab unter das Finstere bringt...". Während Jesus ("der Syrier") in diesem Gesang als "stiller Tröster" in der Nacht der entflohenen Götter auftaucht, schenkt sein so viel älterer "Bruder" Dionysos selbst in dieser Nacht der Götterlosigkeit indes nichts geringeres als "die Freude"! Dionysos ist für Hölderlin als "der bleibende" allerdings von Natur her der übergängliche, immer wieder neu und unmittelbar mit der allinnigen Natur und den Lebensgründen rückverbindende Gott. Er ist der inständig-aufständige Anfang inmitten jeder Nacht.

"Bock und Gott" - also "unterirdischer" phallischer Bocksgott und besonnener Erlöser der schmerzhaft empfundenen Gegensätze, animalische Lebensfreude und tragische Hingabe und Verzehrung für das Leben - in dieser Formel entdeckt Nietzsche die ebenso großartige wie tragische, die eigentlich dionysische Wahrheit des Daseins. Auch die Martyrien des Dionysos und des Gekreuzigten, bemerkt er einmal, seien so wesensfern in einer Hinsicht nicht, allerdings sei die nachträgliche Deutung dieses Leidens grundverschieden, denn die christliche Deutung fliehe jenem Tragischen, ohne das auch die freudige Ekstase nicht zu haben ist: "Das Leben selbst, seine ewige Fruchtbarkeit und Wiederkehr bedingt die Qual, die Zerstörung, den Willen zur Vernichtung. Im andern Fall gilt das Leiden, der 'Gekreuzigte als der Unschuldige', als Einwand gegen dieses Leben, als Formel seiner Verurteilung..." Diese Flucht vor dem Tragischen aber ist für ihn zugleich der Bruch mit dem erotischen Leben überhaupt - ein fataler und epochaler Bruch:

"Den Griechen war das geschlechtliche Symbol das ehrwürdige Symbol an sich... alles einzelne im Akte der Zeugung, der Schwangerschaft, der Geburt erweckte die höchsten und feierlichsten Gefühle. In der Mysterienlehre ist der Schmerz heilig gesprochen: die Wehen der Gebärerin heiligen den Schmerz überhaupt - alles Werden und Wachsen, alles Zukunft-Verbürgende bedingt den Schmerz... Damit es die ewige Lust des Schaffens gibt, damit der Wille zum Leben sich ewig selbst bejaht, muß es auch ewig diese Qual der Gebärerin geben... Dies alles bedeutet das Wort Dionysos... " (Nietzsche, Götzendämmerung) Dies alles, so Nietzsche, wende ein Christentum, das sich selbst nicht mehr verstehe, ins Gegenteil. So unbestreitbar vieles die Christusgestalt auch von Dionysos übernommen haben mag - das Mysterium von Sterben und Auferstehung, die vielschichtige Symbolik des Weins, die Abstammung von einer sterblichen Mutter etc. -, so abgründig ist doch die Abkehr vom in sich bereits geheiligten und heilenden erotischen Leben.

Delia Morgan weist darauf hin, daß diese verfemenden Tendenzen vielleicht keimhaft sogar schon in homerischer Zeit zu beobachten waren: "This seems to be the real ground for the charge of effeminacy directed at Dionysos by various ancient writers. Dionysos had to be feminine, for the same reason that he had to be foreign and bestial: he was Other, opposed by nature to the dearest values of Greek society. He was wet and wild, emotional and disorderly, a god of madness and shape-shifting. He could not be a 'real man' in the eyes of the Greeks because a real man could not be allowed to possess these attributes. He was a strange god, and a god of the periphery - edging on the dark and unknown... His dangerous influence further exacerbated the problem with women: possessed by Dionysos, they became even more irrational, passionate and wild. Liberated by the god, they abandoned their chaste behavior and wifely duties and danced madly through the forests, defying all social restraints..." Freilich muß sie anerkennen, daß trotz dieser Vorbehalte dem dionysischen Kult alle Freiheiten eingeräumt wurden: "That he was admitted to the Olympian pantheon, and that his religion became ultimately so popular and influential, is a remarkable fact which must surely indicate the hidden yearning of the Greek soul to be free from its self-imposed and constricting restraints..."

HermessäuleMorgan versucht eine Erklärung, warum Dionysos - zumindest aus Sicht der jeweils vorherrschenden männlich-agonalen Tugend-Kodizes - gleichwohl nur in einer "halbwegs verfemten", wenngleich enorm einflußreichen Form "erträglich" gemacht werden konnte: "In the wet and wild, polymorphous passions of the wine god the Greeks encountered qualities that were anathema to all the values they held dear to a well-ordered civilization... Dionysos was of the periphery, foreign and animalistic...The possibility of a different kind of masculinity, one which could dance to the pulse of wild nature, embrace dark mysteries and thrum with passion, does not seem to have occurred to the Greeks..." Sie verdeutlicht diese ambivalente Haltung zum dionysischen Lebenskult anhand einer Unterscheidung des dionysischen und des hermetischen Kults: "Hermes was a god of boundaries, and a deity who could pass easily between the realms of earth, sky and underworld. His symbol was the caduceus wrapped with serpents, a tool not so dissimilar to the phallic, ivy-wrapped thyrsus. His image, placed atop square-cut herms with prominent phalloi, often served as a boundary marker, warding off unwanted intrusions... Thus, if the phallus served as a kind of axis mundi, a locus for the ideals of Greek civilization, it also served, in a Hermetic context, to mark the periphery, that edge beyond which one dare not go. Yet going beyond all edges is precisely what Dionysos does, in myth and in cult; he is a god of extremes and a breaker of boundaries. The phallic in a Dionysian context, far from guarding a boundary, marks the dramatic penetration of barriers, a forceful intrusion of the wild, chaotic and mysterious god into the rational..."

So wie Dionysos in der Tat die hermetischen "Grenzsteine" überwindet, so übersteht er auch alle "Einzäunungs"- bzw. späteren Zähmungs- und Verfemungssversuche ungebrochen. An seiner sich behauptenden Lebenskraft kann kein Zweifel bestehen. Von den frühesten namentlichen Nachweisen in den LinearB-Schriftfunden, über seine zentrale Rolle in den orphischen Kulten, den angesprochenen Haupt- und vielfältigen Mysterienkulten in klassischer Zeit, bis hin zum selbsternannten "Dionysos-Sohn" und Welteroberer Alexander d. G., den unzähligen synkretistischen Kulten in späthellenistischer und römischer Zeit, in denen es zu regem Austausch insbesondere mit den Kybele- oder Isis-Kulten kommt, läßt sich eine ungebrochene Faszinationskraft belegen, die man auch daran ermessen mag, daß selbst das Weltherrschaft beanspruchende erste christliche Kaiserreich unter Konstantin es immerhin noch für angezeigt hielt, der neuen "axis mundi", dem Menschengott Christus, gleichwohl überlebensgroße Statuen von Apoll und Dionysos zur Seite zu stellen...

Dionysos ist der immer wiederkehrende, belebende und "bleibende" Ruf des aufständigen Lebens - eine Macht, die zu allen Zeiten, wie Delia Morgan schreibt, "sein Gefolge durch einen Akt der Besessenheit befreit... Indem er die scheinbar unverrückbar gezogenen Grenzlinien, die den Menschen von den Tieren und den Göttern trennen, durchbricht und niederreißt, ist er jener Thyrsusstab, der an den Felsen schlägt und aus diesem Milch und Honig strömen läßt... "



© HD Jünger (Originalbeitrag)
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