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Die Tiere verehren keine Götter - eben weil sie selbst noch Teil dieses schon an sich wunderbaren Netzwerks Leben, weil sie noch ganz wie das Wasser im Wasser sind. Götterverehrung ist eine menschliche Spezialität. Sie ist bereits ein Resultat seines Heraustretens bzw. seiner Desertion aus jener ursprünglichen Einheit alles Lebendigen - oder zuweilen auch des insgeheimen Bereuens dessen. Die erste, älteste und mächtigste (und vermutlich auch einzig nicht zerstörerische) Form des religiösen Ritus des Menschen aber war und ist wohl unzweifelhaft der Ritus der unmittelbaren Teilhabe am erotischen Regenerationstrieb des Lebens selbst, also die Verehrung des animalisch animierten Lebens, der Großen Erdmutter, der befruchtenden und Leben zeugenden Vereinigung im innigsten Akt des Lebens überhaupt. Der Urritus des Lebens ereignet sich dort, wo Lebendiges im Einklang mit dem Leben liebt und zeugt und sich in diesem Ritus zugleich seiner Göttlichkeit und aller nur denkbaren Energieverdichtung innewird.

Adam&EvaDie spätere Flucht aus dieser kosmischen Einheit alles Lebendigen wird im Grunde in allen Religionen insgeheim als ein entscheidender Verlust und Verhängnis geahnt. Daß dieser Bruch hingegen als vermeintliche "göttliche Auszeichnung" oder gar als Merkmal einer angeblichen "Höherentwicklung" oder "Auserwähltheit" umgedeutet wird, erweist sich bei näherer Betrachtung als eine ebenso junge wie verzweifelte, insbesondere in jüdisch-christlicher Tradition auftauchende "Umkehrung aller Werte", die im Jenseits sucht, was sie im Diesseits preisgibt und so aus der Not eine Tugend zu machen versucht. So finden wir in allen Kulturkreisen Mythen dieses Bruchs, etwa im Prometheus-Mythos, oder vollends im Isis-, Kybele- oder Dionysos-Kult. Selbst im biblischen Bericht von der "Vertreibung aus dem Paradies" wird das Essen der "Frucht vom Baum der (Selbst-) Erkenntnis", also das mit dem wachsenden Werkzeuggebrauch einhergehende "Selbstbewußtsein" als entscheidende Verfehlung betrachtet. In all diesen Mythen geht es offenkundig um die spezifisch menschliche Erfahrung der Ferne bzw. eines inzwischen immer abgründigeren Abgetrenntseins von jener Einheit des Lebendigen, der ja fraglos auch der physische Mensch aus Fleisch und Blut seine Existenz verdankt.

Insofern der zunehmende Werkzeuggebrauch und der daraus resultierende Handwerker-, Erfinder- und "Schöpfer"-Stolz des Menschen aber eine immer unüberwindlichere "Dingmauer" zwischen Zivilisation und Leben errichtet, findet er sich selbst schließlich als ein von Kosmos, Natur und animalischer Lebenseinheit abgesonderter, abgenabelter und innerlich zerrissener Gefangener der Zivilisation, gleichsam als kosmisch vereinsamter Outcast wieder. Die Macht dieser Dingwelt und seine Schöpferhybris lassen im menschlichen Selbstbewußtsein - und freilich nur da - schließlich das Leben selbst zu einem bloßen "Ding" schrumpfen, das nur noch dafür da zu sein scheint, damit es eine "Nützlichkeit" für ihn, den lebensflüchtigen Menschen, habe. Der Kampf des Menschen gegen das Leben und damit gegen sich selbst hat begonnen!

Dies fördert auf abgründige Weise die Selbstverblendung einer Gattung, die sich fortan als Herr über Leben und Tod aufspielt, doch sich in Wirklichkeit vielleicht nur immer mehr im Netz des selbstgeschaffenen Zivilisationskokons verfängt, sie immer lebensferner, ängstlicher und hilfloser im selbstgeschaffenen Gestell rasen läßt. Der Zivilist kettet sich gleichsam "organisch" an die erworbene Lebensverneinung und Selbstversklavung. Die Hochreligionen der Zivilisation haben den Menschen zuerst neurotisch und hysterisch gemacht, das animalische Leben kleingeredet, alles Nichtzivilisierte, Nichtflüchtige, Wilde und Freie als heil- und seelenlos verfemt, nur um einer narzißtischen Nabelschau das Signum angeblicher "göttlicher Providenz" aufzudrücken. Die Maschine der Moderne und ihre letzte wahre Religion, das Geld heckende Geld, vollendet das "Gehäuse der Hörigkeit" (Max Weber).

Worin liegt das Verhängnisvolle dieses entfesselten, Leben instrumentalisierenden menschlichen Werkzeuggebrauchs? Mit der Herstellung von Werkzeugen überlistet der Mensch, wie er meint, erfolgreich die Natur. Er vermag damit so überlegene und mächtige Tiere wie Mammute oder Säbelzahntiger zu erlegen (wenn auch nicht Stürme, Vulkanausbrüche, Überschwemmungen, Erdbeben oder Klimakatastrophen abzuwenden). Das erweckt im frühen homo faber ebenso sehr Selbstbewußtsein und Stolz wie, zunächst einmal und über Jahrhunderttausende hinweg, natürliche Skrupel. Denn er ahnt insgeheim, daß er damit die innersten Prinzipien des Lebens mißachtet und unterläuft. Er spürt, daß seine erfindungsreichen Listen der inneren Homöostase der Natur widrig sind, denn der Mensch tötet als einziges Lebewesen berechnend und auf Vorrat. Er tötet mit jedem "künstlich" und instrumentell erlegten Tier sozusagen ein Stück des unantastbaren, in sich wesenhaft nicht-instrumentellen Lebens selbst.

Das deutlichste Bewußtsein dessen finden wir vielleicht in jenen indianischen Regenerationsriten, in denen die Versöhnungsopfer (etwa bei lang anhaltender Dürre) zuweilen das freiwillige Opfer der mutigsten Krieger des Stammes einschließt. Im allgemeinen herrscht jedoch das Tieropfer vor. Zwar scheint es paradox, aber gerade das Tieropfer ist ursprünglich Ausdruck der Kommunion und Versöhnung mit dem Leben, während das Menschenopfer, das nicht ohne Grund vornehmlich in frühen "theokratischen" Dynastien zu beobachten ist, in archaischen Riten vielleicht auch deshalb die Ausnahme bleibt, weil das Töten von Artgenossen offenkundig auch innerhalb des animalischen Lebens die absolute Ausnahme bleibt. Das ursprüngliche Tieropfer ist insofern eine Wiedergutmachung an der Natur, als darin der Mensch das Tier, meistens das bevorzugte Futtertier, gerade nicht aus Nützlichkeitserwägungen tötet, sondern um der Natur selbst zu gedenken, sich ihrer ureigensten Riten innezuwerden, sich mit ihr in Augenhöhe auf eine Stufe zu stellen. Im Akt des Tieropfers kehrt der frühe Mensch für Augenblicke in das spielerische, erotische und animalische Leben zurück, das den Tod als Widerlegung des Lebens noch gar nicht kennt; darin zelebriert er Tod und liebende Einverleibung nicht als Antithesen, sondern als höchste Einheit und Bestätigung der Unzerstörbarkeit des lebendigen Lebens.

Wir haben uns indes angewöhnt, alle elementaren Lebensvorgänge nicht nach ihren eigenen Kriterien wahrzunehmen, sondern jenes anthropozentrische Täter-Opfer-Schema anzulegen, das es so im ungezähmten Leben gar nicht gibt. Vor dem Hintergrund jener noch ununterschiedenen Daseinsform "des Wassers im Wasser" gibt es nur die Komplizenschaft und das abgründige Einverständnis von Tod und Leben, tötendem und getötetem Tier. So wie Tag und Nacht, rückhaltlose Hingabe und Machtfülle, Vulva und Phallus, Leben und Tod untrennbar zusammengehören und im Lebensgrund eins sind, so ist auch der Löwe, der eine Gazelle stellt, nicht der "böse Räuber" und die Gazelle nicht das "arme Opfer", sondern beide vollenden - vom stereoskopischen Standpunkt betrachtet - im Akt des liebenden Einverleibens bzw. Einverleibtwerdens nur gemeinsam die Manifestation des allein durch Hingabe unsterblichen animalischen Lebens.

 Pablo Picasso, Liebespaar

Mit anderen Worten: Unser "Opfer"-Begriff ahnt nichts mehr vom eigentlichen, das heißt lebensstiftenden Charakter dieses ganz unersetzlichen Opfers, ohne welches das Leben keine Sekunde lang existieren könnte! Auch in diesem Augenblick geschieht es millionenfach, daß sich Lebendiges so selbstverständlich der heiligen Einverleibung hingibt wie das "Wasser im Wasser" fließt oder wie sich die ekstatisch Liebenden zum Fressen gern oder zum Sterben lieb haben. Dieser verfemte und tabuisierte, gleichwohl fundamentale Opfer- und Einverleibungsritus ist deshalb für Bataille der intimste Akt des animalischen und noch ungezähmten Lebens überhaupt. Auch die ekstatische Vereinigung ist im Grunde ein Akt gegenseitiger Hingabe und Einverleibung. Im Inwendigsein des erotischen Wahns möchten die liebenden Individuen ihre Individuation auflösen, ineinander "sterben" und so erst vollends aufleben. Sie begehren nichts mehr als sich in diesem Energiefluß des Lebens aufzulösen, sich zu verströmen. Im Festritus dieses "kleinen Todes" liegt deshalb seit jeher auch das ganze Mysterium des "großen Todes".

Die Absonderung vom animalischen Leben als Preis für die Zivilisation ist vermutlich unser tiefster Schmerz. Diesen Schmerz bewirtschaften ungezählte Surrogathändler überaus erfolgreich - doch für Augenblicke heilen kann ihn nur der intimste und älteste Lebensritus, in dem wir uns für Augenblicke der heiligen Einverleibung hingeben und deshalb mit allem Lebendigen eins fühlen. Eine Schamanenseele in uns ahnt um diese Zusammenhänge: "Ich entziehe dich, mein Opfer, der Welt, in der du auf den Zustand eines Dinges reduziert wurdest, reduziert werden mußtest, und in der du einen Sinn erhieltest, der deiner intimen Natur äußerlich ist. Ich rufe dich zurück in die Intimität der göttlichen Welt, der tiefen Immanenz alles Seienden..." (Bataille).

Diese Einkehr in den Weltinnenglanz ist immer überwältigend und vehement, ein luzides Wahnsinnsleuchten flackert im Auge der Liebenden. Es ist das Feuer, das jenes Holz verzehrt, das wir selber sind. Die befreiende Teilhabe am Leben setzt den Sprung in den Abgrund voraus, die rückhaltlose Entfesselung des Begehrens, sich im Anderen "neuzuverleiben", gleichsam im rituellen Sterben neu gezeugt zu werden, um so erst das unamputierte Leben zu spüren. Bock und Gott, Schlange und Göttin - das auflebende Leben will das "Ich" jenem gemeinsamen Dazwischen hingeben, das nicht uns gehört, sondern dem wir gehören. Dieser hieros gamos ist das gesteigerte, geilere und heiligere Leben, in dem jedes vermeintliche "Selbst" versinkt. Es ist für Bataille die Metamorphose und Transgression zum animalischen Opfercouplé, ein Verströmen in die Intimität und Intensität des Eins-Seins mit allem Lebendigen. Lebendiges aber, das nicht mehr verzehrt werden möchte, stellt sich nur dem in den Weg, was es im Innersten begehrt.

© HD Jünger (Originalbeitrag)

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