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Der moderne Flugzeugingenieur dürfte Daidalos' Erfindung allenfalls belächeln. Denn soviel man auch vergessen haben mag, eines weiß man inzwischen doch genauer: daß der Vogelflug aufgrund seiner außerordentlichen biophysiologischen Komplexität wohl niemals technisch nachzuahmen sein wird. Nach heutigem Stand der Technik gelten Daidalos' symbolische Flügel aus Wachs und Vogelfedern als Unding, als ein technologischer Witz (so wie die pythagoräische Sphärenharmonie oder die heraklitische Einheit von Tag und Nacht aus wissenschaftlicher Sicht als Witz gelten). Daß verfeinerte wissenschaftliche Untersuchungen des Vogelflugs die ganze Komplexität und unnachahmliche Perfektion dieses Naturphänomens eindringlich vor Augen geführt haben, zeigt freilich zugleich, wie meilenweit sich die heutige Luftfahrtindustrie vom natürlichen Phänomen des Flugs entfernt hat. Vieles spricht dafür, daß sie gegenüber Daidalos' symbolischen Geflügel der wirkliche Irrwitz ist.

Immerhin kann das Studium des Vogelflugs auch vom modernen Standpunkt des ökonomisch-technischen Nutzens so ganz nutzlos nicht sein, wenn in der heutigen Luftfahrtindustrie oder in militärischen Forschungseinrichtungen in aufwendigen Windkanal-Experimenten etwa der Möwen- oder Taubenflug bis ins Detail "vermessen" wird. Der faszinierende Vogelflug war es schließlich auch, der noch die Flugpioniere zu Beginn unseres Jahrhunderts herausforderte und inspirierte. Otto Lilienthal erforschte, wie einst Leonardo, ein Leben lang die Phasen und Wirkmomente des Storchenflugs, um schließlich mit derart "abgeschauten" Tragflächen von Berghängen zu springen und für eine Weile, wie heute die Drachenflieger, im Gleitflug die Schwerkräfte zu überwinden. Wie viele Daidalos-Nachfahren stürzte auch der schon betagte Lilienthal bei einem dieser Versuche zu Tode (manche meinen, das sei für die "bereits erhobene, beschwingte" Seele zumindest der zweitschönste Tod). Ohne das vertiefte Verständnis des Vogelflugs wären der moderne Drachen- und Segelflug undenkbar, also gerade jene vergleichsweise energieschonenden, leisen und, jedenfalls solange kein neuer Massenmarkt entsteht, umweltverträglichen Formen des "Fliegens mit dem Wind", wie es dem natürlichen Flug noch am nächsten kommt (wenn auch aus Sicht der Naturschützer manchmal zu nah). Doch dies sind eher Randphänomene der technischen Fliegerei. Die Großluftfahrt schlug von Beginn an ganz andere, brachiale Wege ein - Wege, die inzwischen in vielerlei Hinsicht an ihre Grenzen stoßen.

Waren die Beobachtungen des Vogelflugs auch für das Verständnis des Flugphänomens unerläßlich - die grundlegenden Zusammenhänge, etwa jene zwischen Gewicht und Tragfähigkeit, Flügelprofilen und Auftriebserzeugung u.v.m., schaute man der Natur ab -, so blieb doch diese Lehrmeisterin am Ende allenfalls die nützliche Amme, der Krieg aber war der Vater und die Technik die Mutter der bahnbrechenden Erfindungen. Dies gilt selbst für die modernen Formen des (nicht-motorisierten) "Fliegens mit dem Wind": der Vorläufer des heutigen Gleitdrachens, der Rogallo-Gleiter, wurde bei der NASA als Lastensegler für Weltraumfahrzeuge entwickelt, die in den Alpen immer häufiger flanierenden Paragleitschirme sind Weiterentwicklungen der militärischen Fallschirme, und die heutigen Segelflugzeuge, die "Orchideen" und Glanzleistungen unter den Fluggeräten, verdanken ihre Entwicklung maßgeblich jenen der Deutschen Reichswehr in Versailles auferlegten Entmilitarisierungsmaßnahmen (tatsächlich spielten die lautlosen Lastensegler im dann folgenden Krieg durchaus eine wichtige militärische Rolle).

Die eigentliche Technologie aber, wie sie seit Beginn dieses Jahrhunderts die Luftfahrt beherrscht, ist der motorisierte Kraftflug, das Anfliegen gegen die Naturgesetze des Flugs. Als man erkannt hatte, daß der Vogelflug, wie der Mensch schon immer ahnte, nicht nachzuahmen, der sanfte Flug nicht auf breiter Front ökonomisch gewinnbringend umzusetzen war, entschloß man sich die Trägheitsgesetze mit brachialem Energieaufwand niederzuzwingen. Die moderne Großlasten-Luftfahrt konnte allein gewichtsbedingt kein Fliegen "mit", sondern nur "gegen" den Wind und mithin gegen die Natur sein. Wie so oft stand am Anfang auch dieser neuen Technologie also eine Vergewaltigung: die Natur hat dem schwerfälligen Menschen das Flugvermögen versagt - umso schlimmer für die Natur! Was diese Technologie des brachialen Fliegens bedeutet und wie entzaubert das Phänomen mit einem Mal dastand, können seither nicht nur Airbuspiloten und Flughafenanwohner lebhaft bezeugen.

Die heutige Luftfahrtindustrie beruht im wesentlichen auf jener im letzten Weltkrieg entwickelten Raketentechnologie, sie ist im weitesten Sinn ein Zweig der Ballistik. Unter enormem Energieaufwand und entsprechend furchteinflößenden Verbrauchs- und Schadstoffbilanzen schießen Rückstoßdüsen die Flugkörper mit ihren Wirtschaftsgütern an Bord - Waren, Bomben, Touristen, Handelsvertreter oder auch eingefangene Wildvögel - auf mehr oder weniger festgelegten ballistischen Bahnen zu ihren Bestimmungsorten. Mit aufragender phallischer Symbolkraft schieben sich die Jumbos in einen profan gewordenen Himmel, schießen Militärjets, jene mehr oder weniger computerferngesteuerten, bemannten Raketen, in inzwischen hart umkämpfte Regionen vor, die einst Göttern, Engeln und Vögeln vorbehalten waren. Die Belastung der Mitwelt, der Atemluft, der Ohren und der Ozonschicht, die die Erde vor der Verbrennung durch die Sonne schützt, ist exorbitant. Manche Schätzungen, die natürlich gerade auf diesem ökonomischen Kriegsschauplatz heftig umstritten sind, führen einen Großteil des Ozonlochs auf die militärische und zivile Großluftfahrt zurück. In jedem Fall ist der Preis dieses gewaltsamen Fliegens gegen die grundlegenden Naturgesetze des Fliegens gigantisch - und deshalb, so die ökonomische Logik, müssen die tonnenschweren teuren Maschinen (mit noch größeren Kerosin-Tonnagen) umso besser ausgelastet werden, also möglichst "billig" aber pausenlos fliegen. Jedem Alkoholiker kommt diese Logik vertraut vor.

Der Preis für diese Erhebung über die Schwerkraft ist die Unterwerfung, dies zumindest, unter eine zerstörerische Logik. Gewiß, solange das Fliegen mit Krücken "funktioniert", zerbricht sich kein Flugtourist den Kopf darüber, daß sein Fernflug ökologisch gleichbedeutend mit einem Jahr Autofahren ist. Doch es funktioniert nur weil das Flugkerosin steuerbegünstigt, die staatlichen Subventionen für Entwicklung und Betrieb dieser Fliegerei enorm, und mitunter die Sicherheitskriterien "großzügiger" geworden sind. Sähe man von all diesen Klumpfüßen der modernen Luftfahrt ab, insbesondere von jener aus ökologischer Sicht geradezu steinzeitlichen Antriebstechnologie, so könnten fast alle Detaillösungen auch der titanischen Luftfahrt - die Profile und Streckungen der Tragflächen, die strömungsgünstigen Rumpfformen, die verfeinerten Klappensteuerungen, die Leichtskelettbauweise oder Grenzschichtoptimierungen - sogar als beeindruckende "Anverwandlungen" des natürlichen Vogelflugs gelten: so ähnlich und doch so grundverscheiden.

Im Vergleich zu dem organisch optimierten Flugwesen Vogel bleibt, aller beeindruckender Ingenieurleistung ungeachtet, die großtechnische Fliegerei insgesamt ein mechanisch-starres, am Ende gänzlich von den Gesetzen der Schwerkraft und der Trägheit beherrschtes Phänomen, mehr belastende Willkür als erhebende Befreiung, mehr martialischer Dildo als fruchtbare Erektion, eben mehr flüchtiges Häftlingswerk als Kunstwerk. Offenbar nur unter sündhaften Opfern läßt sich der Himmel einer ökonomischen Vernutzung unterwerfen. Man mag an Ernst Jüngers Wort von den "technischen Goliaths" denken, die "Millionen Jahre ihrer Anstrengungen summieren könnten, ohne ein Werk zu hinterlassen, das einen Grashalm, ein Weiszenkorn, einen Mückenflügel aufwöge." Oder auch eine Vogelschwinge. Vieles hat man dem Flugkünstler Vogel abgeschaut, doch das Entscheidende nicht.

Muß der bisherige Weg der letzte Schluß menschlicher Erfindungslust sein? So verlockend in einer Hinsicht auch die Vorstellung wäre, daß sich der sanfte und organische Flug nach Vogelart doch realisieren ließe - das Grundlagenwissen, verbesserte Werkstoffe, mechanische Miniaturisierung von Antrieben und immer leistungsfähigere Meß- und Steuerungssysteme machen dies keineswegs unvorstellbar, wenn eben "nur" eine Lösung der entscheidenden Antriebsfrage gefunden würde-, so stellte sich doch die ernüchternde Frage, ob eine "Demokratisierung des Himmels" und allgemeine "Individualisierung" auch noch des Flugverkehrs nicht die Tragödie des Übergangs von der Eisenbahn zum Automobil wiederholen und potenzieren müßte. Als weitsichtiger erweist sich da allemal Heines (hier zugegeben etwas wörtlich genommener) Vers: "Den Himmel überlassen wir den Engeln - und den Spatzen..."

Wem das Hören und Sehen auf die Stimmen der Natur angesichts des titanischen Flug- und Verkehrslärms noch nicht ganz vergangen ist, dem bleibt und wird so täglich wesentlicher der immer seltenere Gesang der Nachtigall oder der noch freigiebige der Amsel, die Ankunft unserer Sommergäste, der Schwalbe, dieser wendigen Kunstfliegerin und eifrigen Fressfeindin oft überbordender Insektenheere, oder der Stare, deren Gefieder wie ein gestirnter Winternachthimmel glänzt. Oder auch die stille Teilnahme an ihren erregten Versammlungen im Herbst, wenn sie sich für den großen Zug in wärmere Gefilde zusammenfinden, und die bodenständigen Wintervögel wieder unsere Aufmerksamkeit verdienen, die Amseln, Drosseln und zahlreiche Finkenarten, die, nicht unbedingt ein gutes klimatologisches Zeichen, ihr Nomadentum inzwischen gänzlich aufgegeben haben und Dauergäste, sogenannte "Zivilisationsfolger" geworden sind.


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Was zeichnet, im Vergleich zu den exakt berechneten Flug- und Aktienkursen und den exzentrischen Bahnen der Ballistik, den natürlichen Vogelflug eigentlich aus? Natürlich wäre es vermessen, diese Frage positiv beantworten zu wollen, aber einiges dürfen wir uns doch in Erinnerung rufen.

Da ist zunächst jenes ultraleichte und zugleich verwindungsstabile Röhrenknochenskelett - Leichtigkeit, sich leichtmachen können, Schwerkraft überwinden in einem nicht nur physikalischen, sondern umfassenderen Sinn von "Gestimmtheit" ist eben eine Grundvoraussetzung des Fliegens, jedenfalls in und mit der Natur. Eine Meise wiegt ca. 20 Gramm, ein Kolibri insektenhafte 2,5 Gramm, ein Schwan, der schwerste lebende Vogel, muß immerhin 25 Kilogramm in die Luft tragen und benötigt dazu einen entsprechend langen und kräftezehrenden Anlauf auf dem Wasser; im Gleitanflug kann er auch nicht "landen", sondern muß in Wasserskiläufer-Art "wassern". Besonders perfektionierte Gleichgewichtssinne und eine wachsame "Radar- und Navigationszentrale" erlauben virtuose Flugmanöver, Vogelzüge um die halbe Welt - den Rekord hält darin die Seeschwalbe, die zweimal jährlich, von Pol zu Pol, 20.000 Kilometer zurücklegt - und sogar das punktgenaue Wiederfinden des Nestes vom letzten Jahr; aber ebenso die atemberaubend wendigen Flugmanöver der Schwalben, die nicht nur ein Vielfaches ihres Körpergewichts täglich an Fliegennahrung in der Luft erjagen, sondern selbst ihre Hochzeit im Element der Luft feiern. Ganz zu schweigen vom Kolibri, dessen "Schwirrflug" allerdings eine Ausnahme darstellt und sonst eher im Insektenreich verbreitet ist. Er vermag aufgrund seiner rotierenden Flügelbewegungen ruhig in der Luft zu stehen, auch schräg oder in der Vertikalen, er kann Blüten auf dem Rücken "stehend" von unten abernten, bei Angriffen blitzschnelle Rollen drehen oder plötzlich aus großer Geschwindigkeit abrupt stehenbleiben - jedes Flugzeug würde bei vergleichbaren Abbremsungen in seine Einzelteile zerfallen.

Diese Unterschiede gelten noch mehr für die Energieverwertung. Ein Winzling wie der Streifenwaldsänger kann in einer Woche nonstop 4000 Kilometer übers offene Meer fliegen. Ein Auto mit ähnlich guter Energieausnutzung - von Flugzeugen gar nicht zu reden! - würde, so wurde einmal errechnet, mit einem Liter Benzin sieben Mal die Erde umkreisen können. Mögen solche Milchmädchenrechnungen auch fragwürdig und übertrieben sein, in der Tendenz dürfte dieser Vergleich der Wahrheit immerhin um vieles näher kommen als jene sehr häufig kolportierte "Transportnutzenbilanz", derzufolge ein Jumbojet die "doppelte Energieausbeute" einer Taube aufweise. Diese Rechnung ist nicht nur maß-, sondern bodenlos und in etwa so aufschlußreich, als würde man einen Leoparden dem gleichnamigen Panzer für unterlegen erklären. Solche verantwortungslosen Apologien mögen heute heiß begehrte "anwendungsnahe" Forschungsgelder lockern helfen, doch der ihr zugrundeliegende Trick, abstrakte Gewichte (die in der Natur niemals flugfähig wären) mit ebenso abstrakten Maßeinheiten wie Kilokalorien gegeneinander aufzurechnen, ist doch allzu durchsichtig. Von der Tatsache, daß der Vogel eben zur Not auch ohne Nahrungskalorien Höchstleistungen erfliegen kann, spricht man ebensowenig wie von den Schadstoffbilanzen. Man sieht, daß sich mit solchen Zweckrechnungen, bei entsprechenden Vorgabekriterien, geradezu alles "wissenschaftlich beweisen" läßt.

Der Vogel indes beweist nichts - er fliegt, und zwar ohne Kerosin, Lärm und Abgase. Ein besonders angepaßtes Kreislauf- und Atmungssystem erlaubt das Fliegen auch in sehr kalten und sauerstoffarmen Höhen oder auch das Einlegen eines "Turbo"-Flugs, etwa bei der Flucht vor Greifvögeln - und ein Wanderfalk kann im Beutestoßflug immerhin 300 Stundenkilometer schnell sein. Herzfrequenz und Körpertemperatur können deutlich erhöht werden, der Puls eines Sperlings kann 850, der des Kolibris 1200 Schläge pro Minute erreichen. Die Zug-Flughöhe mancher Vögel ist erstaunlich und liegt, zum Leidwesen der Naturschützer wie der Luftfahrtsicherheit, mitunter im Gefahrenbereich der Verkehrsluftfahrt. Die Streifengans etwa zieht in 10 Höhenkilometer ihre Zugbahn, Storch oder Kondor besiedeln die 5-Km-Marke, während Ente und Schwan immerhin noch in 3000 Meter Höhe ziehen. Man hat unseren engsten Vogelnachbarn, den scheinbar so erdnahen Haussperling, aus großer Höhe und bei frostigen Minusgraden aus Flugzeugen ausgesetzt und festgestellt, daß er auch in diesen gänzlich ungewohnten Flughöhen über den Wolken nichts anderes tat als in seine gewohnte Sphäre zurückzufliegen.

Nicht zuletzt jedoch hat die Natur den Vögeln einen Vorzug mitgegeben, deren Überlegenheit auch die technikgläubigsten Ingenieure neidlos anerkennen: ein hochdifferenziertes und aerodynamisch optimiertes Federkleid, ganz besonders aber das Wunderwerk der Tragflügel. Die Physiologie des Brustmuskelapparats, der den hochenergetischen Schlag- oder Kraftflug erst ermöglicht, stellt den technischen Erfindungsgeist ebenso vor unüberwindbar scheinende Hürden, wie die "spielerische" Flexibilität hinsichtlich der "Strömungsanstellung" der von feinstem Deckgefieder umkleideten Flügelvorderkante oder die im Vergleich zu technischem Fluggerät fließenden und fast beliebigen Verwindungs- und Achsenveränderungen im Flug, und zwar um Hoch-, Längs- und Querachse gleichermaßen. Verglichen damit bleibt, wie in Andersens Märchen von der künstlichen Nachtigall, der technische Flug geradezu starr, "monoton", stümperhaft. Ornithologen haben herausgefunden, daß spezielle Dunenfedern an der Flügelvorderkante den lautlosen Beuteanflug der Eulen ermöglichen, daß das scheinbar bewegungslose Kreisen eines Greifs in einer Thermikblase in Wirklichkeit aus feinsten, aber fortwährenden Zentrierungs- und Ausgleichssteuerungen durch kleinste Spreizungen der äußeren Handschwingen entsteht, oder daß jener kleine abspreizbare "Daumenfittich", jener "Vorflügel", der schon Leonardos Aufmerksamkeit fand, ganz entscheidenden Anteil am anmutigen, organisch fließenden Charakter des Vogelflugs hat, weil er immer wenn es die Situation erfordert, eine zusätzliche und gezielte "turbulente Strömung" erzeugen kann, das heißt, mit Hilfe einer wohldosierten Luftverwirbelung auch im Langsamflug Auftrieb bewirkt und so einen Strömungsabriß während des Flugs oder bei Landemanövern verhindert.

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