(3)

Die Geschichte dieses technisch gewordenen Selbstverständnisses beginnt vielleicht schon vor dreitausend Jahren mit der Erfindung der Schrift. Es ist eine echte menschliche Erfindung, wie das Schachspiel, das Zählen mit Zahlen oder das Töten aus Willkür. Was, wie heute der Personalcomputer, als "Zauberwerk" begonnen haben mag, wurde schon bald blutiger Ernst: Kriege tobten um "heilige Schriften" und ihre richtige Auslegung, ja die Dinge verkehrten sich bei näherer Betrachtung: Aus der heilsamen Macht des guten Wortes, aus heiligen Worten also, die niedergeschrieben und festgehalten wurden, eben weil sie heilig waren, wurden "heilige Schriften", die, weil sie Schrift waren, schon bald als heilig galten und zu Kriegen Anlaß gaben.

Mit der Schrift beginnt in bestimmter Hinsicht das Vergessen. Die autoritative Schrift verdrängt das Wort, das ursprüngliche und unmittelbare Erinnern und das echte Gespräch. Die ursprüngliche Verkehrsform mit numinosen Mächten beziehungsweise mit der Rätselhaftigkeit unseres Daseins als Mensch, war wohl das Gebet. Aus dem Gebet wird mittels der Schrift der Gelehrtenstreit, die Wissenschaft, die Theologie, die Auslegungskunst, das Gerede. Aus dem elementaren und noch verwundbaren Zwiegespräch mit dem Sein wird ein Glaube an die "sichere Schrift", also an jenen Buchstaben, der nach den Worten eines bekannten Augustinermönchs, "den Geist tötet". Die Schrift erfordert zwangsläufig die Schriftgelehrten. Sie dünken sich dem Heil näher als andere, wo sie doch schon deshalb weiter von ihm entfernt sein dürften, weil sie ja immer nur lesen, aber nicht erinnern und man hier an Nietzsches Ausspruch über den Universitätsphilologen erinnern darf: "Wälzt er nicht, so denkt er nicht".

Es gibt eine ursprüngliche Kommunikation — das Gespräch, das auf Verständigung und Verstehen zielt —, und es gibt eine medialisierte, technisch vermittelte Kommunikation, die ihren eigenen Gesetzen folgt. Auch die ursprüngliche Kommunikation bedient sich, im erweiterten Sinne, bestimmter "Medien", etwa der Sprache oder der Gesten. Nimmt man zum Beispiel die Körpersprache der Gebärden oder Blickkontakte, so ist dies ursprünglich durchaus ein "Medium" unmittelbarer Kommunikation, das auf Verstehen zielt, wie jeder auf Reisen, wenn er die Sprache des anderen Landes nicht versteht, leicht feststellen kann. Heute aber sind diese Formen unmittelbarer Kommunikation — aufgrund technischer Medien und ihres wachsenden Einflusses — weitgehend depraviert. Dies gilt im strengen Sinne für alle technisch vermittelten Formen der Kommunikation. Auch der telefonische Kontakt zwischen Menschen ist ein völlig anderer als jener im unmittelbaren Gespräch, bei dem man sich in die Augen sieht. Was das Telefon, um mit Warburg zu sprechen, an Raumdistanz überwindet, baut es im Rücken an menschlicher Distanz wieder auf. Der bloße Anschein der Überwindung von Ferne schlägt sich so in noch größeren Fernen nieder — dies mag auch der Grund sein, warum heute die Mobilfunkerei so grassiert, nicht umsonst trägt man die Geräte demonstrativ wie Waffen.

Das Telefon, für Warburg ein Instrument der Zerstörung jener Distanz, die allererst Nähe schaffen kann, steht aber nicht am Anfang, sondern am Ende des teuthischen Bestrebens, die Angst des Menschen in der Welt auf prometheische, auf technische Weise wenn schon nicht aufzulösen, so doch zumindest vergessen zu machen. Die Schrift ist das erste Medium der technischen Reproduzierbarkeit des Gesprochenen und Gedachten. Im Buchdruck wird dies zunächst manufakturell, später industriell. Grammophon, Tonträger, Fotografie und Film sind dagegen sekundäre Fortentwicklungen, die nunmehr auch das Hörbare bzw. das Sichtbare technisch reproduzierbar machen. Die Schrift erweckt — dies teilt sie mit ausnahmslos allen Nachfolgeerfindungen bis hin zum heutigen "allwissenden" Personalcomputer im Netz — den Anschein einer zuverlässigen Verfügungsgewalt über alles je Gedachte, Gehörte und Gesehene. In dieser Hinsicht erfüllt sie, zumindest scheinbar und das erklärt den Erfolg der Erfindung, das anthropologische Grundbedürfnis nach einem "Halt" in einer Welt voller Unbeständigkeit und Vergehen.

Schrift ist in diesem Sinne konservativ: Sie erheischt Vertrauen, weil sie dem Menschen vorgaukelt, daß in einer Welt voller rastloser Veränderung, in der nichts beständig scheint, doch etwas "festgehalten" werden kann. Dies mag aus heutiger Sicht, wo wir doch nichts schneller vergessen als das inflationär gedruckte Wort, verwundern. Tatsächlich aber kann man sich den Übergang von der oral history zur literal history kaum revolutionär genug vorstellen. Mit gutem Grund polemisiert Platon im Phaidros nicht gegen das Wort und dessen Überlieferung, sondern gegen die Schrift. Die oral history basiert auf einer unmittelbaren Kommunikation, die literal history aber hebelt gerade dieses, auf unmittelbares Verstehen zielende Gespräch zunehmend aus. In der mündlichen Überlieferung — wie auch im Idealfall der verstehenden Lektüre, wo Autor und Leser Eingeweihte sind — spricht immer der Mensch zu einem Menschen, Seele zu Seele, ein authentisches Erinnern zu einem ähnlich unmittelbaren Erinnern. Es handelt sich sozusagen, in der Terminologie Brechts, um eine "kleine Pädagogik", so wie sie gelegentlich zwischen Eltern und Kindern in gewisser Hinsicht noch fortlebt, bei der es gilt, Erfahrungen, Erkenntnisse und Lebensweisheiten an die Nachlebenden weiterzureichen. Das zu Übermittelnde muß dabei sein Gegenüber förmlich mit seiner ganzen Existenz überzeugen. Versteht es dies nicht, so gehen die Erfahrungen verloren.

Anders ist es in der schriftlich vermittelten Überlieferungsweise. Hier verselbständigt sich die Schrift. Zwangsläufig tritt ohne die unmittelbare Präsenz des leibhaftigen Menschen, der von seinen Erfahrungen unvermittelt kündet, ein Legitimierungszwang der Schriften und damit eine sekundäre Auslegungskultur auf. Die derart von ihrem Eingebettetsein in existentielles menschliches Erfahren losgelöste Schrift beginnt ihr Eigenleben. Schriftspezialisten, Philologen, Exegeten, Kritiker, Redakteure und Bibliothekare werden gebraucht, ja sogar ein ganz neuer Heros entsteht, der Schriftsteller, der im Gegensatz zum Dichter nicht mehr dem Wort, sondern von vorneherein dem Schreiben dient — doch kann dies den Verlust der Dimension einer authentischen Kommunikation gemäß jener "kleinen Pädagogik" niemals ganz wettmachen. Verstehen ist dialogisch. Ohne die an- und mitdenkenden Fragen des anderen gibt es kein wirkliches Gespräch. Alles schriftlich Fixierte aber ist stumm in dem Sinne, als es einseitig das sagt, was es zu sagen hat. Kein literarischer Text kann, wie das unmittelbare Gespräch, auf die Fragen des Gegenübers eingehen. Der Leser ist in dieser Hinsicht immer Rezipient, immer nur Empfänger, nie Gesprächsgestalter. Deshalb kann auch kein Lehrbuch jemals die unmittelbaren Leistungen von Eltern, Lehrer-Persönlichkeiten oder Mentoren ersetzen.

Je mehr diese sekundäre Schriftkultur die gesellschaftliche Zirkulationssphären durchdringt — die zentralen Etappen hierbei sind die Handschriftensammlungen, dann der Buchdruck, der Massen- und Rotationsdruck und schließlich "das globale Netz" —, umso deutlicher wird die Berechtigung der sokratischen Skepsis gegenüber einer schriftlich fundierten Überlieferungskultur. Man kann sagen, daß mit dem Buchdruck die Neuzeit, mit dem Rotationsdruck die Moderne, mit dem "Netz" aber die ganz und gar technisch gewordene Posthistorie beginnt. In dem Maße, wie sich die Schrift von der kostbaren Hieroglyphik für Eingeweihte weg und hin zum feudalen und frühbürgerlichen Statussymbol und schließlich zum "Markt für alle" entwickelt, verliert sie zunehmend ihre ursprünglich noch vorhandenen geistigen, lebensfundierenden Funktionen. Während in der Antike und, in abgewandelter Form, im christlichen Mittelalter die aufwendigen und kostbaren Handschriftensammlungen zumindest mittelbar mit einer "kleinen Pädagogik" verbunden blieben, macht der Buchdruck die Schrift auch den beiläufigen Interessen nach der curiositas und dem Unterhaltsamen dienstbar und verwandelt sie die bürgerliche Gewerbstüchtigkeit schließlich in eine wohlfeile Ware. Gewiß: Die allgemeine Alphabetisierung war und bleibt eine gewaltige, einmalige Leistung. Doch gerade deshalb kann ihre Dialektik nicht bestritten werden. Man hat diesen Übergang zur Neuzeit emphatisch als die Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit gewürdigt, und dabei übersehen, daß diese Entwicklung gleichzeitig eine gewaltige Aufstockungen am babylonischen Turmbau bewirkt hat. Vom bürgerlichen Salon führt ein verhältnismäßig kurzer Weg zu den heutigen TV-Talkshows, aber ein viel weiterer Rückweg zu jenem "Sein stiftenden" Wort, wie es im Anfang war — und zu jenem unmittelbaren Erinnern des Anfänglichen, der Anamnesis, von der Sokrates spricht.

Die "neuen" Medien — insbesondere die visuellen Medien Film, Fernsehen und Video — stellen die folgerichtige Fortführung und Ausdehnung dieses Medialisierungsprozesses im Zeichen der Technokratie dar. Nachdem die Welt bereits hoffnungslos abstrakt und gestaltlos geworden war, erschien das Medium des Films sogar, man denke nur an die frühen Reflexionen Kracauers und Brechts/Benjamins, ein Stück weit als eine Gegenströmung, hin oder zurück zur Konkretion, zum Zauber und zur "Errettung der Dinge", wie sie Rilke erfleht hatte. Man kann alles Wissenschaftliche über den Sonnenaufgang gelesen und studiert haben und dennoch — oder vielleicht gerade deshalb — verlernt haben, den Sonnenaufgang in seinem eigenen Zauber wahrzunehmen. So wie die Schrift — nicht das Wort und nicht die Kunst — zunächst als kriegerische Nachrichtentechnik entstanden und sodann als "Zaubermittel" und Spiel gepflegt worden sein mag, um später mit "kulturellen Weihen" versehen zu werden und schließlich als Bestandteil einer großen Medienmaschine Agentur der Zeit-Vertreibung und Instrument der politischen oder wirtschaftlichen Propaganda zu werden, so führen auch die jüngsten Medien diese Arbeit an der Amnesie des Wortes forciert fort — im Falle des Computers vielleicht sogar auf besonders unmittelbare Weise: Wozu überhaupt noch das eigene Gedächtnis anstrengen, wenn der kleine Rechner auf dem Schreibtisch sich doch alles viel besser merken kann? Ist es denn nicht jene "Erinnerungsmaschine", die uns endlich "seliges Vergessen" schenkt?

Die besondere Qualität dieses "Zaubermittels" liegt vielleicht auch darin begründet, daß der Computer dem tief verwurzelten Spieltrieb des homo ludens weit entgegenkommt, ja, er präsentiert sich sogar in gewisser Hinsicht als ein "dialogisches" Medium. Während Film und Fernsehen einseitige Großapparaturen sind, die den Betrachter zur Passivität verdammen, kommuniziert der Mensch am "interaktiven" Computer ganz unvermittelt "über", aber eigentlich doch nur "mit" der Maschine als solcher. Es geht nicht mehr um eine nur technisch vermittelte Kommunikation, sondern, gleichsam eine kühne Spiralendrehung höher, um die an sich schon technische Kommunikation zwischen einem gesprächsentwöhnten Bediener und einer Maschine unmittelbar. Das Technische ist gleichsam "in die Funktionale gerutscht", ergreift vom Benutzer förmlich Besitz, indem es ihn — nach seiner Logik und seinem Alphabet — neu alphabetisiert und umprogrammiert. Nicht zufällig spricht man von einem bisher unbekannten Grad der Selbstreferentialität der digitalen Technik, die sogar wächst, wie Fachleute versichern, je mehr man sich mit ihrem eigenen, ganz und gar technischen Alphabet einläßt. Der Rechner hat die Sprache, die Zahl sozusagen das Wort usurpiert.

Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß der Verlust der Gesprächsfähigkeit heute in vielen Fällen schon so weit geht, daß stumm gewordene Menschen nur noch mit dem Computer "kommunizieren" wollen oder können. Sie sind gleichsam schon die Gefangenen seiner — der anderen, neuen Sprache. Konnte das Lesen von Romanen oder wissenschaftlichen Abhandlungen schon immer zum Ersatz für das authentische Erfahren des Daseins werden und konnte das Fernsehen tatsächlich das perfekte Instrument der "Zeit-Vertreibung" im Sinne von Zeitvernichtung und damit der Existenzvergessenheit sein, so ist das allgegenwärtige digitale Terminal "am Netz" der Zukunft vielleicht der Verlust des Wortes und das Verschwinden unserer Muttersprache im Zeichen der vollendeten Nachrichtentechnik. Es bereitet sich darin vielleicht die Substitution unserer "analogen Welt", das heißt aber des Bewußtseins eines Daseins in Raum und Zeit überhaupt, vor. Hier erst gewinnt der Begriff der "virtuellen Welten" sein eigentliches Gewicht: Das Leben selbst, unser Dasein wird virtuell und durch ein Surrogat ersetzt — das Weltnetz oder die Welt im Netz.

Diagnostiziert man in der Neuzeit seit langem eine zunehmende "Entwirklichung der Wirklichkeit", so versprechen die Werbestrategen des Digitalen uns eine Ersatz-Welt, die vielleicht sogar besser und schöner sei als jene, die der Mensch durch die Fortschritte einer hybriden Technik unrettbar verloren hat. Jeder soll auf Knopfdruck nicht nur "das Wissen der Menschheit abrufen" können — in der schönen neuen Welt muß man offenbar nicht einmal mehr zuvor gelernt und erinnert haben, was man überhaupt wissen will, das Fragen und Suchen wird also obsolet und alle werden gleichermaßen überall fündig —, sondern auch in beliebige, eigene und fremde "neue Welten" ein- und abtauchen können. Man mag hierin das postindustrielle Satyrspiel der teuthischen Zivilisation erkennen: Dem Menschen wird die von ihm ruinierte Wirklichkeit am Ende unwirklich, obsolet — sie ist "zum Vergessen". Die Fraglosigkeit triumphiert.



© HD Jünger / Erstabdruck in SCHEIDEWEGE 1997/98
<< zum Textanfang
< zurück