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Wir haben es bei den »neuen Medien« mit ausgeklügelten Marketing-Derivaten der Reproduktion zu tun. Als Techniken des unendlichen Recyclings, verstehen sie sich naturgemäß auf die zunehmend lückenlose und effektive, zwangsläufig auch redundante Verbreitung von Bekanntem. Dies pflegt man höflich in die Redewendung zu kleiden: Das Medium der Neuzeit hat keine Botschaft, es ist die Botschaft. Schauen wir, inmitten des lärmenden multimedialen Schlachtfeldes, nicht tödlich getroffen in das eigene Spiegelbild, wenn uns Rilkes Worte vom Panther, auf welch subversiven Wegen auch immer, wiederbegegnen: »Sein Blick ist vom Vorübergehen der Stäbe / so müd geworden, daß er nichts mehr hält. / Ihm ist als ob es tausend Stäbe gäbe / und hinter tausend Stäben keine Welt«? Bleibt in dieser vergitterten, von ganz unverschämt auftretenden Lügen verstrahlten und von falschen Blicken verstellten Medialität dem Einzelnen zwangsläufig nur noch der unendlich müde gewordene, ins Leere flüchtende Blick?

Bedenkt man, daß noch der stumme Film in seinen Anfängen Gestalten wie das »Weltkind« Chaplin hervorgebracht hat, der ohne Worte, allein mit seiner Sprache der Gesten und des Schweigens der ganzen Welt etwas zu sagen hatte, so kann man sich über die vollständige Umkehrung der Dinge in den geschwätzigen, impertinenten Nachfolgemedien kaum genug wundern. In dem Maße, wie die moderne technische Kommunikation das unmittelbare zwischenmenschliche Gespräch zurückgedrängt hat, schwingen sich die Medien zugleich als Refugium, genauer zur Simulationsbühne von privater Kommunikation auf: Fernsehen und Internet als Kommunikationsersatz, als das Überrauschen der Sprachlosigkeit.

Dabei hat das animierende, anreißende und bei der Stange haltende Gerede, das Frivolität in den Dienst der Ware stellt und dessen Herkunft die Werbeindustrie ist, nicht nur von den ungezählten TV-Talkshows Besitz ergriffen, sondern erobert noch die letzten Enklaven der Seriosität. Das Triviale wird allseits mit kulturellen und wissenschaftlichen Weihen versehen, der erschreckende Niedergang von Kultur in einem paroxysmischen Delirium zur »posttraditionalen Befreiung« umgedeutet. Vollblöd ist voll geil. Das Geschwätz, das nur alles verspricht, das locken, gefallen und auftragsgemäß Zeit für die Werbebotschaften rauben will, überschwemmt das Leben. Es erobert noch den Olymp, und kein Hahn kräht danach. Ein rasch wechselndes Slogan-Repertoire ersetzt das sprechende Wort, das Barbarisieren findet nicht mehr im Publikum, sondern formatfüllend auf der Bühne statt. Ein rasch rotierendes Rollenspiel ersetzt die Persönlichkeitsbildung, manche spielen selbst die Liebe, den Vater oder die Mutter wie eine Rolle. Doch wehe dem, der gar keine Rolle spielen will. Das Tollhaus lärmt, doch wer hört noch zu und wen interessiert noch irgend etwas? Die Einschaltquote, jenes posthumane Gesamtmaß aller verlorenen Maßstäbe, gibt doch nur Auskunft über das Ausmaß der Verluste und der Vereinsamung.

Max Frisch schildert einmal ein älteres Ehepaar, das sich nichts mehr zu sagen hat. Um dieser, als Verlust erfahrenen Sprachlosigkeit zu entgehen, versucht der Ehemann einen Abschiedsbrief an seine Frau zu schreiben, was aber daran scheitert, daß er keine Worte findet. Die Spaziergänge mit dem Hund und getrennte Urlaube helfen auch nicht aus dieser Sprachnot. Schließlich wählt der Sprachlose den Freitod — auch ohne Abschiedsbrief, aber dafür mit der Genugtuung, daß sich an seinem Grab wenigstens auch die anderen eingestehen müssen, daß sie »nichts mehr zu sagen« wissen. Diese Geschichte sagt etwas von dem, was man doch nicht sagen kann — und der Lärm des Geredes gerade betäuben soll.

Verstummte gibt es viele, sogar immer mehr. Manche ziehen es schon vor, nur noch mit dem Computer »zu kommunizieren«. Sie sind gleichsam die Siedler des virtuellen Nirwana, die Gefangenen jener neuen, technoiden Sprache des digitalen Esperanto geworden. Konnte das Lesen von Romanen schon immer zum Ersatz für das Leben werden, konnte das Fernsehen das perfekte Instrument der »Zeit-Vertreibung« im Sinn von Zeitvernichtung sein, so verspricht das virtuelle Netz der Zukunft das Zeitalter vollkommener Frag- und Sprachlosigkeit, die Befreiung von jenem Wort, das zum Fragen zwingt und allein heilen könnte.

Wozu aber geschieht das alles? Was ist die geheime Triebkraft dieser globalen "Umprogrammierung" und "Vernetzung" der Menschen, wie sie vor unser aller Augen vorangetrieben wird? Bereitet sich da eine qualitativ neue Stufe der entzauberten technisierten Welt vor oder gar ihre Vervollkommnung? Geht es am Ende um einen globalen Rüstungs-, Steuerungs- und Uniformierungsvorgang? Oder gibt es schon Anzeichen dafür, daß wir die Zeitgenossen der Entropie, der Implosion der wissenschaftlich-technischen Neuzeit sind? Erleben wir den Aschermittwoch der Moderne, wo der einstigen Großmacht der technisch-industriellen Zivilisation die großen Visionen für Brot und Spiele längst ausgegangen sind und sie sich im Spiel in "virtuellen Wirklichkeiten" verliert? Baut sich hier, vielleicht unbewußt, eine technische Zivilisation ihr Mahnmal einer technischen Hybris, ähnlich den Pyramiden der Pharaonen?

Unter dem Schlagwort "neue Informationstechnologien" firmiert dieses globale Projekt — allein: Wie groß ist der Bedarf an "mehr Informationen" überhaupt in einer Welt, in der schon heute eher über ein Zuviel an Information, über Redundanz, über die Wiederkehr des Immergleichen geklagt wird und in der auch kein Bedürfnis nach Forcierung, sondern nach Reduzierung von Komplexität besteht? Es ist eine allgemeine Erfahrungstatsache, daß die Informationsmenge, die ein Mensch verarbeiten kann, — ganz anders als in der Chip-Entwicklung und bei professionellen Informationsdiensten — keineswegs beliebig zu vergrößern ist. Wer also will überhaupt, von professionellen Nachrichtendiensten abgesehen, beständig "mehr Information"?

Was sich freilich nicht erst seit der digitalen Revolution feststellen läßt: Technik wuchert aus sich heraus fort. Die technische Welthaltung fragt nicht nach dem "Warum", sondern macht das Machbare. Die erklärten und unerklärten Kriege werden heute von "Soldaten der Technik" im Auftrag der Technik geführt. Wenn Benjamin noch dem "Verlust der Aura" eines Kunstwerks nachtrauern und das Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit analysieren konnte, so muß man heute, in erstaunlich kurzer Zeit, existentielleren Entwicklungen ins Auge sehen: Nicht die Reproduzierbarkeit des Kunstwerks, sondern jene des Menschen hat eine ganz der Technik ergebene Zivilisation auf die Tagesordnung gesetzt — auch diese Koinzidenz von Gen- und Informationstechnik sollte zu denken geben. Längst hat die prometheische Seite des Menschen, wie es scheint, hoffnungslos die Oberhand gewonnen und einen geheimen "point of no return" überschritten: Der Traum vom gänzlich menschen-, das heißt technisch gemachten Menschen — und damit selbstverständlich zugleich vom an die Technik optimal angepaßten Menschen — soll offenbar nicht länger Traum bleiben. Der Mensch als beliebig "programmierbare" Ansammlung von "Modulen" und "Gen-Clusters", also der Mensch als das "technisierte Tier" (Heidegger) rückt in greifbare Nähe.

Mit Technik (dem Feuer) arbeitete sich einst der Mensch aus dem Tierreich heraus, wurde er zu jenem Zwitterwesen, das nur noch mit einem Bein auf der Erde steht, mit dem anderen aber, jedenfalls bis zur Neuzeit, in der Transzendenz. Aus diesem Spagat, dieser Brückenstellung zwischen Natur und Geist, "zwischen Göttern und Erde", wie Hölderlin einmal sagt, erwuchsen die alten Hochkulturen und der Morgen des griechischen Daseins. Noch bis in den "Herbst des Mittelalters" unternahm man große Anstrengungen, die technischen Versuchungen des Menschen zu zügeln, sie in den Dienst kosmischer Werte zu stellen, ihnen zumindest wirksame Grenzen zu setzen, so als ahnte man schon immer, daß — nachdem das Christentum den Menschen zum Nabel des Kosmos gemacht hatte, um den sogar Gott kreiste — mit ihrer Entfesselung jeder Rückweg abgeschnitten sei.

In der beginnenden Neuzeit aber bricht der Damm: Der Mensch hält diesen anstrengenden Spagat offenbar nicht mehr länger aus — oder nicht mehr für notwendig. Er verfällt der Vorstellung seiner "Autonomie" gänzlich, stattet sich gleichsam mit Generalvollmacht über den Kosmos aus. Sein neuer und einziger Gott ist fortan er selbst, oder: das "vernünftige Tier", das mit Technik herrscht, oder einfach: die Technik. Das Tier? Eher muß man wohl mit Cioran vom tragischen Untier sprechen, vom "Deserteur der Natur", von einem Vertriebenen, panisch die Flucht nach vorn ergreifenden Getriebenen. Der jüdisch-christlichen Denktradition blieb es vorbehalten, diese heillos zufällige Menschengeschichte unter anthropozentrischem Vorzeichen sakral zu erhöhen, ja sogar das Heil und die "Erlösung" in die Geschichte zu verlagern: Die Genesis als Geburtsstunde des Utopismus, der Weltverachtung im Namen einer eschatologischen "Erlösung". Doch "Erlösung" wovon eigentlich? Natürlich paradoxerweise von eben dieser heillosen Menschengeschichte selbst. In eben diesem Paradox zeigte sich freilich noch jener Funke ursprünglicher Vernunft, für den der spätere säkulare Utopismus, die blutigen eschatologischen Selbsterlösungsversuche des Menschen in der Neuzeit allerdings kein Verständnis mehr aufzubringen vermochten. Hat Ciorans "böser Blick" nicht recht, wenn er die Geschichte als "ein Luxus, ein Zwischenspiel, eine Verirrung" bezeichnet, und in dem Essay Nach der Geschichte meint: "Indem er sie hervorbrachte und seine Substanz in sie investierte, hat sich der Mensch verausgabt, vermindert, geschwächt"? Gewiß ist, daß der Mensch ebensosehr Opfer wie Täter dieser Geschichte ist, und niemals etwas anders war. Gewiß ist auch, daß der Mensch nach seinem historistischen Rausch offenbar die Lust am Laster der Geschichte verloren hat. Wenn er einstweilen noch weitermacht, "so deshalb, weil er nicht die Kraft hat, zu kapitulieren, seine Flucht nach vorn (nichts anderes ist die Geschichte) aufzugeben, weil er einen Automatismus im Verfall erworben hat (...) Indem er sich selbst zunehmend durchschaubar wird, kann er nichts mehr unternehmen, nichts mehr `erschaffen´: ein Versiegen mangels Blindheit, durch Vernichtung der Naivität."

Gewiß ist es eine gewollte Blindheit, eine Selbstblendung, die jedoch noch weit über das hinauszugehen scheint, was wir von Oidipus kennen. Der wollte nach all seinem Unglück auch nichts mehr sehen von der Welt. Doch verstehen wir auch schon, was Hölderlin meinte, wenn er seine Blendung mit dem Wort kommentierte: "Oidipus hatte vielleicht ein Auge zuviel noch"? Ahnen wir noch, daß man jenes "innere Auge" des Erinnerns am Ende eben nicht blenden kann? Jene Einbruchstelle des Augenblicks also, von dem nicht Oidipus, sehr wohl aber offenbar die moderne Zivilisation sich, wie es scheint, abzutrennen vermochte? Dieser "zweite Sündenfall", diese Durchtrennung jener Nabelschnur des Erinnerns, die den Menschen mit dem Kosmos verband, aber weist auf die Selbstauslöschung. Das Monstrum der Natur, der Mensch, seiner Herkunft nach ein Findelkind von Himmel und Erde, nach dem Sündenfall ein verstockter-trotziger Halbwaise, erkennt sich nun, nach dem Einbruch titanischer Amnesie, im Spiegel seiner selbst als Vollwaise, als hoffnungsloser Außenseiter der Evolution: Ohne Bruder im Naturreich, ohne Schwestern im Himmel, ohne Weggefährten hat er Eltern, Ahnen und Herkunft vergessen — der vereinsamte, nun auch innerlich "erblindete Troglodyt" (Cioran). Wir wissen nicht, woher wir kommen, wir wissen nicht wohin wir gehen — das war schon immer so, gerade deshalb suchte der sich fragwürdige Mensch. Nun aber hat er, so scheint es, die Suche aufgegeben, ist von aller Fragwürdigkeit erlöst — und Lebenszeit ist, nicht allein sprichwörtlich, nur noch Geld.

Warnungen gab es genügend, die jedoch, betäubt vom Lärm der vulkanischen Schmieden, überhört wurden: Die Kassandrarufe etwa eines Hölderlin, der den Hereinbruch einer gänzlich seins- und naturvergessenen "Nacht" über Europa in aller Deutlichkeit vor sich sah, oder das Wort von der "wachsenden Wüste" Nietzsches, Friedrich-Georg oder Ernst Jüngers "Titanismus"-Kritik oder Heideggers Diagnosen des neuzeitlichen Daseins, die der seins- und naturvergessenen wissenschaftlich-technischen Zivilisation die Wirkung attestieren, daß "(...) in dem Augenblick, da die Planung und Berechnung riesenhaft geworden, das Seiende im Ganzen zu schrumpfen (beginnt). Die `Welt´ wird immer kleiner, nicht etwa nur im quantitativen Sinne, sondern in der metaphysischen Bedeutung; das Seiende als Seiendes, d.i. als Gegenständliches wird schließlich soweit in die Beherrschbarkeit aufgelöst, daß der Seinscharakter des Seienden gleichsam verschwindet und die Seinsverlassenheit des Seienden sich vollendet".

Die Seinsverlassenheit des Seienden vollendet sich, die Welt verschwindet — das meint einen Bruch mit tausendjähriger Überlieferungstradition, das Abgeschnittensein von einer Herkunft, den Ahnen und einem wirkenden Gesetz (kósmos). Es deutet eine Art "Sprung" oder Mutation der Gattung an: Indem der Mensch sich durch Technik die Erde und den Himmel restlos zu unterwerfen anschickt, löst sich die Welt als ein belebtes oder beseeltes Gegenüber, als Mitwelt auf. Der Mensch selbst wird zu einem herkunfts- und ziellosen Wesen, einem in sich Verbannten, der einer geschlossenen, fensterlosen Monade gleicht. Heidegger schreibt diese Gedanken Mitte der dreißiger Jahre nieder, also in unmittelbarer Auseinandersetzung mit den sich abzeichnenden technischen und "metaphysischen" Rüstungsvorgängen eines Hitlerismus, den der Philosoph anfangs sogar als eine Art ganz anderen Neubeginn begrüßt hatte. Doch der Kern, um den es bei dieser Entwicklung geht, beginnt natürlich nicht 1933 und endet erst recht nicht 1945. So wie Goethe schon an der "Entwirklichung der Wirklichkeit" durch die neuzeitliche, berechnend-vernutzende Wissenschaft litt und dem als Heilmittel eine "organische Bildung" nach dem Vorbild der Natur und der Antike entgegensetzte, so forciert setzt sich dieser seither ins "Riesenhafte" gewachsene Rüstungsvorgang der wissenschaftlichen Technik nach 1945 über den gesamten Globus fort — man denke nur an den Erfinder von Hitlers "Wunderwaffe" V2, SS-Führer Wernher von Braun, der 1945 seine prometheischen Talente bruchlos in die Raketen- und Atomtechnik der USA überführte.

Zehn Jahre früher als Heidegger ließen die Vorgänge einer im Wesen technokratisch gewordenen Moderne Aby Warburg in seinem "Kreuzlinger Vortrag" voller Illusionslosigkeit notieren: "Dem heutigen Amerikaner erregt die Klapperschlange keine Furcht mehr. Sie wird getötet, jedenfalls nicht göttlich verehrt. Was ihr entgegengesetzt wird, ist Ausrottung. Der im Draht gefangene Blitz, die gefangene Elektrizität, hat eine Kultur erzeugt, die mit dem Heidentum aufräumt. Was setzt sie an dessen Stelle? Die Naturgewalten nicht mehr im anthropomorphen oder biomorphen Umfang gesehen, sondern als unendliche Wellen, die unter dem Handdruck dem Menschen gehorchen. Durch sie zerstört die Kultur des Maschinenzeitalters das, was sich die aus dem Mythos erwachsene Naturwissenschaft mühsam errang, den Andachtsraum, der sich in den Denkraum verwandelte. Der moderne Prometheus und der moderne Ikarus, Franklin und die Gebrüder Wright, die das lenkbare Luftschiff erfunden haben, sind eben jene verhängnisvollen Ferngefühl-Zerstörer, die den Erdball wieder ins Chaos zurückzuführen drohen. Telegramm und Telephon zerstören den Kosmos. Das mythische und symbolische Denken schaffen im Kampf um die vergeistigte Verknüpfung zwischen Menschen und Umwelt den Raum als Andachtsraum oder Denkraum, den die elektrische Augenblicksverbindung raubt, falls nicht eine disziplinierte Humanität die Hemmung des Gewissens wieder einstellt".

Als der nach dem Inferno des Ersten Weltkriegs in eine seelische Krise geratene Aby Warburg seinen Vortrag über das Schlangentanzritual der Pueblo-Indianer in Ludwig Binswangers Sanatorium in Kreuzlingen hielt, notierte er: "Ich will, daß auch nicht der leiseste Zug blasphemischer Wissenschaftlerei in dieser vergleichenden Suche nach dem ewig gleichen Indianertum in der hilflosen menschlichen Seele gefunden wird." Es eint so unverwechselbare Geister wie Hölderlin, Nietzsche, Heidegger oder Warburg die Gemeinsamkeit, daß sie die Zwiedeutigkeit der menschlichen Existenz eben nicht nur reflektiert, sondern ad fundus erfahren, selbst durchlebt — und dieser Erfahrung in ihrem Werk allererst Ausdruck verliehen haben. Für Warburg zumindest ist dies sogar die eigentliche Aufgabe der Kunst: sie schafft paradigmatische Gestalten ebendieser Erfahrung, sie ist eine symbolische Verleiblichung unvermittelter Daseinserfahrung, ihre Vergegenständlichung in unersetzliche Vermittlungsgestalten.

Diese Vermittlungsgestalten oder symbolische Formen sind für Warburg von den Praktiken "phobischer Magie" ebenso weit entfernt, wie von jener modernen abstrakten Welt-Distanzierung mittels Wissenschaft und Logik (die sich am Ende ebenfalls als eine aus Furcht vor der Natur gespeiste technisch-rabiate und wenig rücksichtsvolle Form der Magie erweisen könnte). Es ist für Warburg — diese Erfahrung geht ihm schon früh bei seinen Studien zur Florentiner Renaissance auf — der Kunstakt, der diese für den Menschen letztlich unverzichtbare Vermittlung von Natur und Geist, Leidenschaft und Logos, Dionysos und Apoll zu leisten vermag. Paradigmatisch leistete dies die griechische Kunst. In der Kunst also tradiert sich das Gattungsgedächtnis der Menschheit. Während die wissenschaftlichen Erkenntnisse einander ablösen und fortlaufend ersetzen, das jeweils Neue das Veraltete und Überholte "widerlegt", entsteht im symbolischen Kunstwerk die bleibende zwiespältige Natur des Menschen jeweils ganz unmittelbar neu und in Gänze. Warburg erschienen, wie Erwin Panofsky einmal ausführte, die künstlerischen Gestalten als "eine Geschichte der menschlichen Leidenschaften", die in einer "von der Zivilisation nur scheinbar überdeckten Daseinsschicht beständig gleichbleiben, und die der formverleihende Geist gerade deswegen in immer neuen Kulturgebilden zugleich offenbaren und bändigen" müsse.

In einer Notiz zu seinem Kreuzlinger Vortrag heißt es: "Die ganze Menschheit ist ewig und zu allen Zeiten schizophren." Doch gebe es, so Warburg, einen entscheidenden Hiatus, wie der "primitive" und wie der moderne "zivilisierte" Mensch mit dieser vorgegebenen Schizophrenie umgehe: "Beim primitiven Menschen führt das Erinnerungsbild zur religiös verknüpften Verleibung, beim zivilisierten zur bezeichnenden Auseinandersetzung." Überspitzt paraphrasiert: Der Zivilisierte betreibt eine bis zur Weltlosigkeit distanzierende Begriffsmagie, dem Primitiven aber ist noch alles heilig, beseelt, voller Götter. Der Primitive erfährt sich als Teil des Allbelebten (auch in der gefährlichen Bedeutung des Wortes, der Urangst alles Kreatürlichen, aufgefressen zu werden), der von der Technik Domestizierte aber stellt sich tollkühn der Welt und der Natur als einem vermeintlich "Ganzanderen", Auszurottenden gegenüber. Während das Bewußtsein des "mythisch Denkenden von animistisch bekannten und übersehbaren Wesen" bevölkert sei, setzt der Logiker an ihre Stelle "naturwissenschaftlich `feststellbare´ Erreger": abstrakte Begriffe.

Was gemeinhin als grandioser Fortschritt betrachtet wurde, galt Skeptikern wie Warburg jedoch zugleich als beispiellose Verarmung, als die Entzauberung und der Verlust von Welt und der kosmischen Verständigung, ja als eine neue, abgründigere, diesmal naturwissenschaftlich-technische Form der Magie. Ist der Primitive von Gottheiten bezaubert — und fraglos lebt in jedem Künstler hiervon etwas fort —, so ist der zivilisierte "Soldat der Technik" von seinen technischen Erfindungen verhext. Deshalb also Warburgs Suche nach dem ewig gleichen Indianertum in der hilflosen menschlichen Seele: "Ich ahnte noch nicht," schreibt Warburg 1923, "daß mir aus dieser amerikanischen Reise [zu den Pueblo-Indianern] eben der organische Zusammenhang zwischen Kunst und Religion der `primitiven´ Völker so klar werden würde, daß ich die Identität oder die Unzerstörbarkeit des primitiven Menschen, der zu allen Zeiten derselbe bleibt, so deutlich schaute..." Es wäre eine paradoxe Verkehrung der Dinge, wenn man annähme, daß Warburg durch diese indianische Magie krank und durch die logische Distanzierung genesen sei. In dieser Verkehrung spiegelt sich vielmehr die unbewußte Tragik der Moderne.

Daß (auch) das Telefon den Kosmos zerstört hat, versteht heute niemand mehr. Worum es aber geht, ist das Verständnis eines unabweisbaren inneren Zusammenhangs zwischen Technokratie und dem Selbstverständnis des Menschen. Wo die Technik nicht länger in einen "Andachtsraum" eingebettet und mithin scharf begrenzt und dienstbar bleibt, sondern sich verselbständigt und zur einzig wirklichen Macht wird, der der Mensch dient und sein Schicksal anvertraut, dort werden der Mensch selbst, sein Wahrnehmen, sein Verhalten, sein ganzes Dasein ihrerseits technisch. Heute können wir feststellen, wie jeder Kosmos entschwunden scheint und der Mensch unter einer Dunstglocke aus Abgasen, Radiostrahlungen und Technomusik in einem Laufrad rast, dessen Tempo zunehmend die Computer vorgeben. Warum rast er? Wovor läuft er weg? Vor seiner Sterblichkeit? Vor seinem Tun? In einer solchen, selbst technisch gewordenen Existenzweise verändert sich aber nicht nur das Verhältnis des Menschen zur Welt und sein Selbstverständnis. Auch die Mitmenschlichkeit hat hier zwangsläufig keinen wirklichen Platz mehr, auch dieses Verhältnis wird funktionell, das heißt aber, es wird technisch und unter dem Aspekt der Nützlichkeit betrachtet.

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