Vom Rausch

Leben sucht den Rausch, weil es weiß, daß es sterben muß. Die Komplizenschaft von Trunkenheit und Tod ist unergründlich und unbestechlich. Das Berauschte sucht selige Vergessenheit, vor allem möglichst gründliche Selbstvergessenheit, es will gleichsam seine Individuation abschütteln - ein ebenso befreiender wie furchtbarer Vorgang, vor allem in seinen diversen kollektivistischen Formen.

Das scheidet den Berauschten vom Genießer, der sein Ich - also jene Instanz, die nach Freud doch niemals wirklich Herr im eigenen Haus ist - gerade intensiver erleben will, in allem auf das rechte Maß bedacht und beständig auf Verfeinerung des Selbstgenusses aus ist (und vielleicht gerade deshalb so wenig von der abgründigen Tragik jenes Lebens ahnt, in welcher der Berauschte versinkt). Der Hedonist sucht festen Boden im Bodenlosen und, auf möglichst stilvolle Weise, Halt im Haltlosen.

Der Trunkene hingegen vergeudet sich, er will, ja er ist selbst dieses Boden- und Haltlose, ein scheinbar willenloser Bestandteil jenes dionysischen Taumels, in dem die Grenzen von Leben und Tod verschwimmen und so, schon im Leben, eins werden. Der Trunkene sieht zwar immer weniger klar, aber er ist luzide. Der Genießer weiß um tausend geheime Nuancen, aber er ist doch ahnungslos. Er sammelt, nimmt an sich, akkumuliert und schirmt seine wohlbehüteten Idyllen gegen jede unwägbare Herausforderung des Lebens ab. Der Trunkene aber verschwendet sich pflichtgemäß, es zieht ihn magisch zu jedem Abgrund, in dem er noch einen Quell des Lebendigen vermutet.

Dies erhellt, warum in einer zunehmend narzißtischen Lifestyle-Zivilisation zwar der Hedonist zum gemeinen und systemkonformen Leitbild werden konnte, sein archaisches Pendant aber, gerade weil es sich selbst verschwendet, allenfalls noch zum Objekt jener Fürsorgeinstanzen taugt, die man vor nicht allzu langer Zeit als Repressionsapparat bezeichnete, die für jene entfernten Nachfahren eines berauschten dionysischen Lebens allerlei Substitutionstherapien bereithalten: TV statt religiöse Erfahrung, Prozac statt melancholischer Grübel, Events statt Kunst, Lifestyle statt Ekstase. Verständlich, daß uns da Hofmannsthals Wort immer näher rückt: "Wir schauen unserem Leben zu, wir leeren den Pokal vorzeitig und bleiben doch unendlich durstig. So empfinden wir im Besitz den Verlust, im Erleben das stete Versäumen..."

Auch wenn sich die Smarten und Cleveren am Ende nur als die Langweiligen, Mittelmäßigen und vergleichsweise Anspruchslosen und jene subversiven Selbstverschwender als die interessanteren und eigentlich auch produktiveren Menschennaturen erweisen sollten - den Schierlingsbecher reichte man schon in der Jugendblüte Europas nicht dem Sophisten, sondern dem philosophischen Ekstatiker Sokrates (selbst Nietzsche mußte erst wahnsinnig werden, um in ihm, wie schon Hölderlin, einen geheimen Schicksalsgefährten zu erkennen). Für Sokrates allerdings war die hedoné noch etwas ganz anderes als für das heutige Lifestyle-Genießertum, mehr und anderes als Kaufkraft gepaart mit Eitelkeit und Narzißmus. Sie war ihm eine "Lust" und, subtiler noch, die Vorfreude auf die Lust, wenn man so will: die Lust auf die Lust.

Es sei freilich schwer, meint Sokrates im PHILEBOS, diese Lust zu begreifen, da sie uns in verwirrend vielfältigen, oft einander widersprechenden Formen begegnet. So gebe es etwa die Lust auf Ausschweifung ebenso wie jene nach Besonnenheit, die der Entleerung ebenso wie die der Anfüllung, und so weiter. Immer aber sei es für die hedoné kennzeichnend, daß ihr ein innerer Drang zur Entgrenzung und damit zur Maßlosigkeit innewohne. Die Lust sei, wie Sokrates hier vieldeutig formuliert, mit "der Süße des Honigs", die philosophische Besonnenheit hingegen mit einem "strengen und gesunden Wasser" zu vergleichen. Diese nicht aufgelöste Aporie, ob es also vielleicht doch so etwas wie ein geheimes Maß im Maßlosen gibt, ist uns geblieben.

Natürlich wissen wir, daß Sokrates' "philosophische Besonnenheit" in Wahrheit auch eine durchaus maßlose und lustvolle Wahrheitsliebe ist und insofern selbst alle Kainszeichen des Rauschs und der Manie trägt (gegen die man heute keinen Schierling sondern vermutlich dopaminerge Präparate verordnen würde). Natürlich tragen vor dem Hintergrund dieses PHILEBOS - und erst recht des PHAIDROS - die heutigen Konsumhedonisten ihren Namen ganz zu unrecht. Und natürlich sind es auch heute allein noch die Trunkenen und irgendwie noch immer vom Lebensrausch Besessenen, die Sokrates' Vorbehalte gegen jede allzu simplifizierende Auffassung dieses elementaren Phänomens der Lust teilen.

Glaubt man etwa jüngsten neurobiologischen Untersuchungen, so klafft zwischen Verlangen/Gier und Genuß/Lust auch in ihrer jeweiligen Biochemie eine viel größere Kluft als gemeinhin angenommen. Fast möchte man vermuten, daß sich wachsende Gier und tatsächliche Lusterfahrung dort umgekehrt proportional verhalten, wo man meint, es sei eins und dasselbe. So bewirkt bekanntlich jede Aktivierung des "dopaminergen Selbstbelohnungs-Systems" von außen, die zunächst noch als angenehm empfunden werden mag, über kurz oder lang doch nur die Konditionierung und zunehmende Versklavung durch die jeweilige Droge, die schließlich selbst zum eigentlichen und allmächtigen Objekt der Begierden wird: die Lust auf das käufliche Surrogat ersetzt, sozusagen einem Trojaner gleich, die Lust auf die Lust. Das schafft keine Freude, aber Umsatz. Jene sokratische einträchtig-zwieträchtige harmonia von Honig und Wasser gerät gründlich aus dem Gleichgewicht, so daß schließlich einer immer größeren Gier immer weniger Lebenslust gegenübersteht. Baudelaire bemerkte dazu: "Wer zu einem Gift seine Zuflucht nimmt, um zu denken, wird bald ohne Gift nicht mehr denken können."

Aber es ist nur ein Symptom unter vielen. Es scheint sich viel mehr und vielleicht systemisch etwas zwischen Leben und Lust geschoben zu haben, wenn etwa jenes verbreitete Frust- und Lustshopping nicht die ersehnte Selbstbelohnung, sondern vielleicht nur die Bulämie fördert, wenn so der "Hedonismus" immer populärer und ordinärer, in der wachsenden Gier nach Erleben und Event aber immer seltener der ersehnte kairos sondern immer häufiger ein Versäumen erlebt wird. So wenig schon die Sophisten gegen Bezahlung Weisheit oder die Hetären für Geld Liebe geben konnten oder wollten, so wenig können auch die raffiniertesten modernen Substitutionsstrategien und Deals mit wohlfeilen "Lust-Trojanern" hedonistische Freudenlüste oder gar ekstatisches Leben neu entfachen. Wo Dealer und Krämer ihr Feld bestellen, entstehen zwangsläufig maßlose Bedürfnisse und Begierden, aber - beides liegt in der Logik des Marktes - weitaus weniger Möglichkeiten und Perspektiven elementarer Lebenslust oder gar so etwas wie eine Kultur des Rausches.

Nur eine Trunkenheit in uns ahnt, wie wenig sie sonst auch wissen mag, um die Würde der Hingabe, des Sichverschwendens, des marktwirtschaftlich völlig unproduktiven und deshalb subversiven Pottlatchens. Je gründlicher eine rein funktionalistische Zivilisation jede irrationale Hingabe abweist und ausgrenzt, umso gewisser fühlt sich dieses Trunkene an seinem Platz. Dieser Platz ist ein Ort der Ortlosigkeit, die Flucht in jene Flüchtigkeit, die vielleicht zuletzt Bestand hat. Der Berauschte will, getreu Nietzsches Wort: "Je weniger du besitzt, um so weniger wirst du besessen", alles verlieren, um das Nichts zu gewinnen.

Dieses "Nichts" ist aber nicht nichts, es ist vielleicht sogar das Vergessene, das Entscheidende - so wie das Vergebliche und Zwecklose am Ende vielleicht das unabweisbar Notwendige ist. Auf den Gipfeln der Paradoxie hausend, kostet das in die Urriten des Lebens geworfene Leben jede Form der manía bis zur Neige aus. Eine erhellende Umnachtung hat es so fest im Griff, daß alle Ordnungen, Gewohnheiten und Begrenzungen gleichgültig werden, es will das Dasein wieder als ein sich selbst genügendes grund- und zielloses "heiliges Spiel", als Tragik und Fest, als die Feier eines großen und uneingeschränkten Jasagens zum Leben selbst.

Wozu sonst leben? Wenn Dasein vom Tag der Geburt an sterben muß, wenn Schiffbruch das einzig gewisse ist, so bleibt nur - das Spiel, jenes ernste Spiel wie es die Kinder noch kennen und pflegen. Denn nur hier, im beständigen Vergehen, ist das Vergehen auch ständiges Werden: der freie Fall als Spielart des Aufflugs. Jeder Rauschbesessene ist Spieler, aber ein solcher Spieler, der nicht spielt um zu gewinnen, sondern dessen luzid-stereoskopischer Blick im Verlust den Gewinn erkennt, der nicht nur Geld oder Besitz, sondern sein Selbst, seine Existenz zum Einsatz bringt. So sehr jene Vernunft, die gesund sterben will, den manischen Rausch auch verdammen mag und darin, zurecht, eine Art beständige und lustvolle Vorwegnahme des Untergangs erkennt, so machtlos bleiben doch letztlich alle moralischen Mahnungen, ob nun im römischen oder katholischen Wortsinn, gegenüber diesem Willen zum Leben als Ausnahmezustand, zum anderen, elementaren Leben, zur Einkehr in nackte, hilflose Anfangs- und Werdelust. Wie rühren hier an die Urparadoxie des Lebens, das erst vollends in seinem Untergang die Neugeburt spürt, ja sich nur so selbst am Leben erhält.

Dieser Wille zum ekstatischen Dasein ist in allen seinen Erscheinungsformen jenem zivilisierten Hedonismus ein Greuel, ein Ausdruck von Dummheit und Schwäche. Das mag in einer Hinsicht zutreffen, doch was bedeutet es schon dem Trunkenen, wenn die alte Krämerin rät: "Nur zu hoch nicht hinaus, es geht übel aus"? Was bedeutet es dem Ekstatiker, der im kairos das Fest des Lebens selbst erfährt, wenn ihn jene Ärmsten, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen, zur Zurückhaltung mahnen. Wie die Hummel sich bis zur wohligen Regungslosigkeit an den Blütensäften, die Fliege, die Rentiere oder die Schamanen sich bis zur kräftigenden Trance am Fliegenpilz berauschen, so labt sich schließlich auch schon der Säugling ausgiebig und gebieterisch an der stillenden Mutterbrust.

Wenn schon das bacchantisch in Muttermilch badende Böcklein von weither den Einflüsterungen John Barleycorns folgt, warum sollte es im späteren Leben anders sein? Ist Leben nicht von der Wiege bis zur Bahre dieser Wille zum Rausch, Zivilisation aber der seltsame Versuch, dies im Zeichen einer höchst irrationalen "Rationalität" zu verdrängen? So bleibt der Rausch, wie es scheint, jene seltene Krankheit, die sich selbst nicht nach Heilung sehnt. Mußten dem nicht selbst die wortgläubigsten Religionen Rechnung tragen? Und ist Religion nicht selbst eine Art Rausch, ohne ihn aber wie ein Fahrrad ohne Räder und ein Mensch ohne beides wie ein Baum ohne Wurzel und Rinde?

Wir machen uns selten klar, daß bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein anstelle von Wasser in großen Mengen Wein getrunken wurde. Noch die Goethe-Zeit war niemals ganz nüchtern, meist berauscht, mitunter sturztrunken. Der mit Abstand teuerste Posten der Pflegekosten Hölderlins bei Schreinermeister Zimmer waren die täglichen Weinrationen. Wie vielen Krügen Wein mag Meister Bach bis zur Vollendung der Matthäuspassion, Schubert auf seiner langen Winterreise oder Rabelais an seinem Gargantua zugesprochen haben! Kaum erblickt dieser, ein frühneuzeitlicher Heroe jenes kritischen Übergangs von maßloser Rauschlust zum technisch-ökonomischen Rausch am Maßlosen, das Licht der Welt, verlangt es ihn, so ungestüm wie Achill nach dem Tod des Patroklos nach Schlacht ruft, sogleich nach Wein. Gargantuas Vaterunser enthält folgerichtig die theologisch nicht einmal wirklich anstößige Zeile: "Unseren täglichen Wein gib uns heute..."

Oder denken wir an Cervantes' einsamem Helden Don Quichotte. Dieser letzte Ritter Europas kann in einer zunehmend wissenschaftlich rationalisierten Welt natürlich nur noch in "trauriger Gestalt" erscheinen, gleichsam die erheblichen Verluste ex negativo in Erinnerung rufen. Sein Knappe Sancho Pansa ist kein Patroklos und sein Klepper Rosinante kein Bukephalos, sein Papphelm verbreitet nicht die Furcht von Achills Rüstung und seine imaginäre Lehnsherrin Dulcinea de Tobosa ist auch keine Pallas Athene. Und doch zieht Don Quichotte den abgründig imaginären Reichtum eines ritterlichen Lebens jeder profan-bürgerlichen Existenz als bloßer Marktkalfaktor vor. Was bedeutet es da schon, wenn die Stocknüchternen und Vergeßlichen in seinem grandiosen Kampf auf verlorenem Posten und in seinen mächtigen Feinden bloße Windmühlen erkennen wollen? Umso schlimmer für die Ahnungslosen, die nicht mal mehr wissen, wie viel sie verloren haben und wie real diese Feinde wirklich sind! Wenn es mithin schon kein richtiges Leben im falschen mehr gibt, so gibt es doch den Rausch der Rebellion gegen das falsche Leben - auch eine in der tat höhere Tat.

Von hier führt ein Weg zu den dämonischen Gestalten Dostojewskijs, zu einem Fürst Myschkin oder Raskolnikow, die die Erfahrung ihres Autors teilen, daß in Rußland die Kneipen immer voll und die Kirchen immer leer sein werden. Ihre völlig zwecklos gewordene und gerade deshalb geadelte Bereitschaft, sich selbst hinzugeben, macht auch aus ihnen Narren und Heilige zugleich.

Jenes manisch melancholische Temperament, das verrückt nach Anfang ist und sich so grundlegend von heutigen Hedonismen unterscheidet, steht wohl von weither unter den Zeichen des Saturn. Es teilt Nietzsches Liebeserkärung lebhaft: "Ich liebe den, dessen Seele sich verschwendet, der nicht Dank haben will und nicht zurückgibt. Denn er schenkt immer und will sich nicht bewahren..." Der Betrunkene 'hat' seinen Rausch, der Trunkene aber ist Teil jenes elementaren Lebensrauschs selbst. Man kann vielleicht sagen, daß die Gier die Fortschritte der Zivilisation bestimmt. Die zunehmend verwaisten Saturnkinder aber prägen vielleicht immer wesentlich das, was wir Kultur nennen.

Der Trunkene, das ist seine Tragik und sein Glück, ist von der Bewegung besessen, daß alle Grenzen fallen mögen. Dabei tragen ihn doch nicht einmal die eigenen Beine. So torkelt er uns weiter wegweisend voran.



© HD Jünger / Erstabdruck in LETTRE INTERNATIONAL 1/2002
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