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Wem diese biophysiologischen und flugfunktionalen Betrachtungen des Vogelflugs jedoch schon zu technisch und deshalb letztlich abwegig sind, der kann bei nächster Gelegenheit eine aufgefundene Federschwinge, dieses Basisorgan des Vogelflugs, in Augenschein nehmen. Dürers berühmte Blauracken-Flügel vermitteln in ihrer morphologischen Akribie etwas von der Faszination, die dieses Wunderwerk der Natur seit jeher bewirkt hat. Die Vogelfschwinge ist tatsächlich ein Organ, manchem sogar ein sich offenbarender Mikrokosmos, Ausdruck eines scheinbar mühelosen Vollkommenheitsstrebens der Natur.

Die sich stetig verjüngende Form des sehr stabilen, leichten und doch flexiblen Kiels, die glatte und zugleich diagonal strukturierte ("turbulente") Oberseite, die im Flug strömungszugewandte schmalere und torsionsfestere Schaftfälfte, und die von den Nachbarfedern überdeckte breitere und weichere Hälfte, sowie jenes "Reißverschlußprinzip" der Federästchen, das die paradoxen Flugerfordernisse nach Festigkeit und Flexibilität geradezu genial in sich vereint - all diese Eigenschaften, von der imponierenden Farbenpracht der Hähne gar nicht zu reden, sind hier zu einem organischen Ganzen, einem Kunstwerk der Natur verschmolzen, das die Kinder spontan zum oft stundenlangen "Ausprobieren" oder Sammeln reizt und einer erwachsenen Wiederbegegnung zur Schule des wiederentdeckten Staunens werden kann. Wenn anströmende Luftböen dem Vogel im Flug einmal zu starke Widerstände entgegensetzen, bricht nicht die Feder oder gar der ganze Tragflügel, sondern öffnet sich an jenen "Naht"-Stellen einfach der "Reißverschluß". Nach dem Flug kann der Vogel mit wenigen Schnabelzügen sein Gefieder ordnen, das heißt, die auseinandergerissenen Äste wieder "einhaken" (denn es sind mikroskopisch kleine Häkchen, die die einzelnen Federstrahlen miteinander verbinden).

Dieses Gefieder ist zu allem ein sensorisch rückmeldendes, ein "fühlendes" Gefieder, denn an den Wurzeln der großen Schwingen befinden sich sogenannte Mechanorezeptoren, die ungewöhnliche Anstellungen bzw. Widerstände an einzelnen Federn registrieren und so im Flug entsprechende Korrekturen erlauben. Aber auch gebrochene oder abgenutzte Federn sind kein Verhängnis - der Vogel mausert, das heißt, ihm wachsen neue Exemplare dieser kleinen Wunderwerke einfach nach. Daß die Bewohner der Lüfte, wie die Natur überhaupt, nicht nur aus Funktionalität und einer optimalen Anpassung an die Lebensbedingungen bestehen, daß auch ein Überschuß, das Spielerische und Übermütige zu ihrem Recht kommen, kann man an den jubelnden Amseln oder in den Sommerabend tanzenden Lerchen erkennen, oder am Balzflug des Kolkraben, der mit tollkühnen Kunstflügen, mit Rückenflug, Messerflug oder Rollen imponiert. Zweifellos fliegen Vögel nicht aus purer "Fluglust", es ist ihnen ebenso Notwendigkeit und kräftezehrende Arbeit. Doch scheint es auch diese Phasen der reinen Fluglust zu geben, wo der Vogel, ganz nutzlos, einfach "in seinem Element ist", etwa die Alpendohle vom Hanglee aus dynamisch gegen die Gipfelwinde ansegelt (die besten Sportsegler haben davon gelernt) und, ähnlich dem Albatros, jenem stoischen Meeresgleiter, ihre Schleifen zieht, oder auch die Schwalben sich am Ende eines bis zu fünfzehnstündigen Fliegerarbeitstages zur gemächlicheren "Abendkür" einfinden.

Was fasziniert den Menschen, nach allem, so sehr am Flug der Vögel? War und ist es nicht doch noch etwas mehr als die beneidenswerte virtuose Technik, was den Vogel religions- und kulturübergreifend zu einem Symbol des Erhabenen, ja Heiligen werden ließ? Die Zeugnisse dafür sind überaus vielfältig, sie reichen, um einige Beispiele zu nennen, vom kultischen Federschmuck und Totemglauben der Indianer über den falkenköpfigen altägyptischen Sonnengott bis zum Adler als Herrscher- bzw. Souveränitätssymbol (Zeus), zur Taube der Aphrodite oder zur Eule der Pallas Athene bei den Griechen. Es gibt die geflügelten Genien und die späteren christlichen Engelwesen, die Taube als Verkörperung des Heiligen Geistes, und Franz von Assisi, seiner materiellen Reichtümer überdrüssig, kehrte sich in die Stille und unterhielt sich lieber mit den Vögeln. Dichter sprachen nicht zufällig vom "Gedankenflug", und Hölderlin, dem "Gesang" und "Aufflug" Synonyme für die dichterische Erfahrung schlechthin waren, sagt einmal den Vers "Unter dem Strauche saß ein ernster Vogel gesanglos" so, daß man erschreckt und glaubt, jetzt sei die ganze Welt schlagartig verstummt.

Vielleicht war im Anfang das Wort, vielleicht die Tat - vielleicht hat aber auch Pablo Nerudas Vision ihr Recht, und im Anfang galt: "Alles war Flug..." Die Religionsphänomenologie hat mit der Erkenntnis, daß die Gestalt des Vogels in nahezu allen Religionen als ein bevorzugtes Symbol der Seele begegnet, bestätigt, was auch Platon im Phaidros erzählt: den Traum vom Fliegen träumt die durch alles hindurchwirkende Weltseele, also vielleicht jedes Lebewesen, jedenfalls alles Lebendige. Im zentralen Mythos dieses Dialogs heißt es, daß die Seele im "Aufflug zur Sonne" ihre Herkunft, ihr eigenes Wesen wiederfindet, sie erkennt darin gleichsam jenes frühere Dasein wieder, bevor sie in die Individuation "abstürzte", in einen der Schwerkraft verhafteten Körper "eingekerkert" wurde. Diese Weltseele, die eine "Flugseele" ist, durchzieht Sokrates' Mythos vom Befiederten Gespann gemäß "den ganzen Himmel, verschiedentlich in verschiedenen Gestalten sich zeigend. Die vollkommene nun und befiederte schwebt in den höchsten Gegenden und waltet durch die ganze Welt; die entfiederte aber schwebt umher, bis sie auf ein Starres trifft, wo sie nun wohnhaft wird, einen erdigen Leib annimmt...": der Mensch als gefallener Vogel, als Abgestürzter - nicht als Krone der Schöpfung, sondern von Beginn an als Ikarus.

Da diese Seele als die beflügelnde Lebensenergie selbst ihre eigene Herkunft aber niemals vergessen kann, sucht sie - sie sucht, so der sokratische Mythos, nach "Heimwegen" und nach Wieder-Holung dieser schwerelosen freien Existenz, wie sie im Ursprung war. Sie sucht in der Philosophie und in den Augenblicken der Ekstase - und manchmal wohl auch, wenn sie den Vögeln nachsieht. Freilich sucht sie nicht immer, sondern ebenso häufig sucht sie das Vergessen, das heißt sie flieht vor sich selbst... Gleichwohl hat auch die Menschenseele wohl doch noch einen anderen als bloß technischen Anteil am Himmel. Die Suche der Künstler und Philosophen, der Daidalos', Leonardos und Lilienthals, ja letztendlich sogar jene verhängnisvolle "Fluchtsuche" des homo faber oeconomicus eint, wenn schon nicht die Wege, so doch eine gemeinsame Verlusterfahrung und, wie verschieden auch immer, die Sehnsucht nach Aufflug. Der seine Himmelsbahnen ziehende Vogel bleibt dem Menschen, für den Aufflug und Absturz so eng beieinanderliegen, ein Ruf, jenen Seelentraum vom Flug nicht ganz zu vergessen, den alles lebendige teilt. Schauen wir den Vögeln nach, nährt und weitet sich, wie wehmütig auch immer, die Seele. Wie wir aber anders als Ikarus von einem technischen Blind- und Höhenflug "wieder herunterkommen" können, das ist auch noch eine Frage.




Literaturhinweise: Platon, Phaidros 246 b-e;.Leonardo da Vinci, Vogelflug-Codex aus dem Jahre 1505, Biblioteca Reale Turin (Nachdruck und Kommentar in: Leonardo da Vinci, Das Lebensbild eines Genies, 8. Aufl., Wiesbaden/Berlin 1977, S.337-358); O. Lilienthal, Der Vogelflug als Grund-lage des Fliegens, 2. Aufl., Berlin 1910; W. Nachtigall, Warum Vögel fliegen, Hamburg/Zürich 1985; G. Rüppell, Vogelflug, München 1975; K. Schmidt-Koenig (ed.), Animal Migration, Navigation and Homing, Berlin 1978; E. Bezzel/R. Prinzinger, Ornithologie, 2.Aufl., Stuttgart 1990; B Scheiba, Schwimmen - Laufen - Fliegen, Leipzig 1990; Barbara von Wulffen, Chiffren des Vogelzuges, in: Scheidewege, Jahrgang 1990/91, S.294-305



© HD Jünger / Erstabdruck in SCHEIDEWEGE 1999
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