Auszug aus Kapitel I: H.D. Jünger, Mnemosyne und die Musen – Vom Sein des Erinnerns bei Hölderlin, Würzburg 1991

I. Uneinholbarkeit des Erinnerns durch Wissen

Erinnern aus Sicht der Wissenschaften

Mit dem Phänomen des Erinnerns im weitesten Sinn beschäftigen sich heute ganz unterschiedliche Wissenschaftszweige mit je unterschiedlichen Fragestellungen, Methoden und Erkenntniszielen. So untersucht etwa die Psychologie solche Phänomene wie Gedächtnisstörungen oder Lernschwierigkeiten, Formen von Amnesien (etwa das sogenannte Altersvergessen) oder Typen der Umformung von Erinnerungen (wie sie in der Forensik bedeutsam werden können), oder auch den für die Psychoanalyse ganz zentralen Gesichtspunkt des Verdrängens von subjektiven Erinnerungen, beziehungsweise therapeutischer Wege einer subjektiven Anamnese des so individuell Verdrängten. Ein Stück weit objektiver, als eine Art "kollektiver Menschheitserfahrung", faßt die Archetypen- oder Tiefen-Psychologie C.G.Jungs die mentalen Gestalten auf.

Die Historiographie - sowohl die allgemeine (politische) Geschichtswissenschaft wie auch die einzelnen speziellen Fach-Geschichtsschreibungen (wie zum Beispiel Philosophie-,Technik- oder Kunstgeschichte) - bedient sich, zumindest auf den ersten Blick, so offensichtlich einer "erinnernden Methode", daß die Sache des Erinnerns und die Aufgabe des Historikers dem allgemeinen Bewußtsein geradezu identisch scheinen. Doch in Wahrheit läßt sich ein unmittelbares Erinnern, verstanden als Existential, natürlich nicht an "Experten abdelegieren"; vor allem aber hat alle historisierende Wissenschaft ihrerseits die eigentliche, wenn auch oft ungefragt bleibende Frage nach dem Sein des Erinnerns als solche je schon zur Voraussetzung. Der Historiker steht in Wirklichkeit keineswegs auf einem freigestellten Gipfel, von dem herab er das All des Erinnerns überschaut, sondern er ist in Wahrheit selbst nur ein Teil von diesem Sein selbst, bewegt sich, mehr oder weniger befangen, innerhalb jener Geschichtlichkeit, die dieses Sein des herkünftigen Erinnerns selbst ist. Gerade einem selbstkritischen historischen Bewußtsein ruft sich so die Frage der ontologischen Vorgängigkeit des Erinnerns unablässig in Erinnerung.

Geschichte existiert überhaupt, wie Droysen sagt, nur als erinnert. Das aber heißt, daß dieseFrage nach dem eigentlichen Sein des Erinnerns notwendig schon der Frage nach dem Historischen vorausliegt, ja daß jedes historisierende Bemühen sich selbst etwas vortäuscht, solange es sich nicht tatsächlich als ein je schon mnemisch vermitteltes Geschehen erfährt. Vergegenwärtigt man nun, in welchem Ausmaß inzwischen jede wissenschaftliche Disziplin auch eine historisierende geworden ist, wird deutlich, in welchem Umfang die Vor-Frage jeder Historik - die Frage nach dem Sein des Erinnerns selbst - in Wahrheit auch immer schon ein (meist unbefragtes) Problem aller übrigen Wissenschaften ist.

Seit jeher ist das Erinnern dem Fragen nach Religion und Ethik ein ganz wesentliches Phänomen. Würde der Mensch nur vergessen, so gäbe es keinerlei Grundlage, sich über eine mitmenschliche Moral oder ein soziales Rechts- und Unrechtsbewußtsein, eine Sittlichkeit, auch nur Gedanken zu machen, denn das, was man Gewissen nennt, wurzelt unmittelbar im Sein des Erinnerns, es ist eigentlich das sich zu Wort meldende und anrufende, das sich selbst in Erinnerung rufende herkünftige Erinnern als solches. Dies ist, wenn es versagt, bedeutsam hinsichtlich der Juristik und der Rechtsphilosophie, aber auch, damit es nicht ständig versagt, hinsichtlich der Religion, die ohne Erinnern nicht sein könnte. Es bedarf eines "wieder-holenden" Erinnerns, damit Offenbarungen und Ursprungs-Mythen vergegenwärtigt und wachgehalten werden können und es weist auf den ontischen Stellenwert eines herkünftig-unhintergehbaren Erinnerns, wenn bestimmte religiöse Herausbildungen, wie etwa die sogenannten "mystischen Ströme" in den Weltreligionen allgemein oder auch, in ganz besonderer Weise, der olympische Mythos, in einem Unterwegssein auf dem 'Heimweg' des herkünftigen Erinnerns, die gleichsam natürlich eingeborene Religiosität - hier und nachfolgend immer als ein ereignishaftes "re-ligari", als ursprüngliche und unmittelbare Rückverbindung zum Sein verstanden - überhaupt erfahren, oder jeder unmittelbaren Religiosität in dieser oder jener Form die Erfahrung zu eigen ist, daß ein Unsterbliches (ein Sein) anwest, weil diese Idee eines Unzerstörbaren und "Unvergeßlichen" im Sein des herkünftigen Erinnerns selbst geborgen ist.

Als unmittelbare Aufforderung zum tätigen Erinnern geschaffen sind in diesem Sinne all jene "Denkmäler", die man als kultisch im weitesten Wortsinn bezeichnet, seien es nun die jüdischen Gedächtnisfeiern oder das christliche Abendmahl, die Andachtsbildnisse - Andacht kommt von Andenken, von Erinnern - oder die rituellen Handlungen und Stiftungsmythen von Familien, Völkern oder Gemeinschaften überhaupt. Ihr Wesen ist, zumindest ein Stück weit, Anfängliches und ein Innewerden dieses Anfänglichen "wieder-zu-holen": "Der religiöse Mensch mündet periodisch in die mythische und heilige Zeit, findet die Zeit des Ursprungs wieder, die 'nicht abläuft', weil sie (...) aus einer ewigen Gegenwart besteht." Nicht zuletzt sind auch seit Menschengedenken die Nekropolen in diesem Sinne ureigentliche Orte des Erinnerns, des Andenkens eines Herkünftigen und eines je noch Zukommenden. So wie es offenbar keine Religiosität ohne das ursprünglich Musische und Mythische, erst recht nicht ohne das ursprünglich Mnemosynische gibt, so steckt im eigentlich Musischen auch seinerseits, wie noch näher zu sehen ist, je schon ein wesenhaft mythisch-religiöses und insbesondere ein ursprünglich mnemosynisches Moment.

In der Philosophie - verstanden als das ursprüngliche Erfahren, Befragen und Bewahren der Wahrheit des Seins - steht im Grunde schon immer, wenn auch nicht immer explizit, neben so zentralen Begriffen wie Wahrheit oder Sein, auch das Erinnern ganz im Mittelpunkt. Dies gilt - um nur einige wesentliche Stationen der europäischen Philosophie zu erwähnen - für die vorsokratische Philosophie, etwa für die Ontologie des Parmenides (dessen zentrale Erkenntnis "Nicht-Sein ist nicht" je schon eine Erkenntnis des sich seiner vorgängigen Inständigkeit wiedererinnernden Erinnerns ist), oder auch für die pythagoreische, empedokleische und orphische Philosophie (deren gemeinsamer zentraler Gedanke einer Metempsychose, das heißt, einer vom Lichtreich weg durch die Existenz wieder zum Lichtreich zurück wandernden Seinsseele, ebenfalls in einer außergewöhnlichen innermnemischen Erfahrung wurzelt), wie für den überaus philosophischen olympischen Mythos ganz allgemein.

Dies gilt erst recht und ganz offenkundig für die sokratisch-platonische Anamnesis-Philosophie und deren vielfältiges Fortwirken, etwa bei Plotin und in der spätantiken Gnosis, in der sogenannten christlichen Mystik von Hildegard oder Mechthild bis Meister Eckart, im Renaissance-Humanismus bis hin zum sogenannten deutschen Idealismus. Insbesondere mit Platons Darlegungen im MENON - wonach (unter anderem) auch "tò manthánein anámnesis ólon estín", auch "das Lernen ganz und gar Erinnern ist" (vgl.MENON,81d) - hat das Phänomen des Erinnerns, das im Religiösen und Kultischen, im Mythischen und Musischen schon von je her von ganz fundamentalem Gewicht ist, auch eine ganz konstitutive Bedeutung innerhalb jenes, sich zunehmend unter anthropozentrischen und rationalistischen Vorzeichen verselbständigenden, philosophischen Zweigs gewonnen, den man heute allgemein Erkenntnistheorie nennt. Während noch der antike Neuplatonismus und teilweise die frühe christliche Philosophie, aber auch wieder der deutsche Idealismus offenkundig bestrebt sind, an sokratisches Philosophieren inwendig anzuknüpfen und den ursprünglich anamnestischen Herzschlag dieses Philosophierens wiederzugewinnen, wirkt speziell jenes (zwar ursprünglich in der immanenten Zirkularität der Anamnesis selbst gründende, aber zunehmend von diesem eigentlichen Grund abgelöste) Erkenntnis- oder Subjekt-Objekt-Problem - welches als solches vor allem die cartesianische Trennung in res extensa und res cogitans zur wesentlichen Voraussetzung hat - in den verschiedensten neuzeitlichen Erkenntnistheorien durch Dutzende von sprachlichen Abwandlungen hindurch in einer gleichsam zum Kategorialen erkalteten Form auch dort fort, wo die ursprünglichen innermnemischen (und musischen) Wurzeln des Philosophierens gänzlich in Vergessenheit geraten sind.

Wenn es insofern auch nicht ganz falsch ist, daß Whitehead die gesamte europäische Philosophie als "eine Reihe von Fußnoten zu Platon" auffaßt, so muß man gerade angesichts der Fragestellung, die hier im Mittelpunkt steht, doch hinzufügen, daß natürlich auch Platon das Erinnern nicht "entdeckt", erst recht nicht "erfunden" hat. Dies drückt keiner unmißverständlicher als Platon selber aus, der, noch diesseits des neuzeitlichen subjekt-zentristischen Denkens, nicht müde wird, wirklich anamnestisches Philosophieren gerade als Ausdruck der Teilhabe am Sein des Erinnerns ins Erinnern zu rufen. Im inner-anamnestischen Verständnis kann das menschliche Denken nicht wirklich im strengen Sinn etwas erfinden, sondern was es "findet", gehört je schon jenem alles umgreifenden und eigenständigen Sein des Erinnerns selbst an. Daß es so ist, erfährt Dasein aber genuin erst im Selbstvollzug ursprünglicher Anamnesis, erst durch unmittelbares Wieder-Erinnern jenes herkünftigen inständigen Seins, an dem Denken je schon teilhat.

Platons Anamnesisphilosophie ist mithin keineswegs bloße "Erkenntnistheorie" im neuzeitlichen Sinne, sondern vielmehr eine Selbst-Offenbarung des Seins des Erinnerns. Mag sich auch noch eine spätere positivistische Philosophie als "strenge Wissenschaft" auf Platon berufen, die Anamnesis-Philosophie selbst ist noch diesseits eines neuzeitlichen, subjektzentristischen Seins- und Wissenschafts-Verständnisses und wurzelt tief in der besonderen Welthabe des olympischen Daseins, zu dessen Auszeichnungen es gehört, daß zwischen Sein und Dasein noch kein trennender Abgrund klafft. Gleichwohl ist die Anamnesis-Philosophie gerade deshalb im platonischen Verständnis das durch alles Philosophieren Hindurchgehende, das insofern bis heute, durch uns hindurch fortfragende Pneuma der philosophia perennis. Das Erinnern ist nicht irgendeine Eigenschaft des menschlichen Geistes neben anderen, sondern sein eigentlicher Atem, jenes Sein, welches ihn je schon vorgängig umgreift; es ist gleichsam das nährende Wasser, in dem er schwimmt, und so wie ein Fisch nicht ertrinken kann, kann das teilhaftige Andenken das Sein des Erinnerns im platonischen Verständnis zuletzt nicht wirklich vergessen.

Diese in den platonischen Dialogen mit allem Nachdruck herausgestellte Seinshaftigkeit oder Inständigkeit des herkünftigen Erinnerns wirkt daher tatsächlich auch noch dort lebendig fort, wo dieses Wesen des Erinnerns selbst nicht Gegenstand des jeweiligen Philosophierens ist, sich ein Philosophieren selbst nicht genuin als Anamnesis erfährt, oder ein Philosophieren sogar über dieses Sein des Erinnerns selbst noch hinauszugehen meint (obwohl dieses Sein doch nicht wirklich zu hintergehen oder zu überholen ist).

Im wesentlichen innerhalb der philosophia perennis einer herkünftigen Seinsanamnese vollzieht sich das Philosophieren des deutschen Idealismus, dessen zentrales Prinzip des seinshaften Geistes - beziehungsweise des sich seines Seins-Charakters innewerdenden Geistes - eine immanente Einheit mit dem je schon vorgängig einwohnenden Erinnern bildet.

So schreibt Schelling: "Die platonische Idee, daß alle Philosophie Erinnerung sey, ist in diesem Sinne wahr; alles Philosophieren besteht in einem Erinnern des Zustandes, in welchem wir eins waren mit der Natur". Und an anderer Stelle heißt es: "(...) die Aufgabe der Wissenschaft ist, daß jenes Ich des Bewußtseyns den ganzen Weg von dem Anfang seines Außersichseyns bis zu dem höchsten Bewußtseyn - selbst mit Bewußtseyn [also in sich erinnernd] zurücklege. Die Philosophie ist insofern für das Ich nichts anderes als eine Anamnese, Erinnerung dessen, was es in seinem allgemeinen (seinem vorindividuellen) Seyn gethan und gelitten hat". Dies meint auch, daß herkünftiges Erinnern, das Schelling in der Sprache der Geistontologie als jenen "selbst mit Bewußtsein" zurückzulegenden Weg kennzeichnet, immer schon das eigentliche Sein selbst wiedererinnert. Eigentliches Philosophieren verbindet das "Ich" mit dem vor- oder über-individuellen Sein, das heißt, es verbindet das Dasein mit dem Sein selbst.

Für Hegel - in dessen Philosophie die Begriffe "Erinnern" und "Innerheit", ganz anders als für Hölderlin, im allgemeinen noch sehr stark mit der christlichen Religion verknüpft sind, ja vielfach als Auszeichnungen dem Wesen des Christlichen vorbehalten bleiben - ist das Erinnern zunächst einmal sehr allgemein jener Vorgang, daß etwas aus der Form der Äußerlichkeit in die Form der Innerlichkeit umgewandelt wird (das "Ver-Innerlichen"). Dieses mit dem Erinnern eng verbundene "Verinnerlichen" meint hier keineswegs einen privaten Rückzug ins Ego, sondern im Gegenteil einen die bloß äußerliche verdinglichende Wahrnehmungsweise aufhebenden Vorgang, der darin gründet, daß ein innig Erinnernder sich im Erinnern notwendig eines Inwendigen an und für sich, das heißt im Sinne Hegels, sich der Existenz eines geistigen Seins überhaupt allererst innewird. Dieses im Erinnern erfahrbare Sich-Bewußt-Werden eines Seins im Sinne Hegels bildet aber somit zugleich auch den Übergang von den vielen partikularen und "privaten" Erinnerungen hin zum Erinnern selbst, also zum Sein des Erinnerns. Erst wenn sich der erinnernde Geist von den ständig wechselnden Inhalten und Gegenständen des Erinnerns ab-, und dem Sein des Vorgangs des Erinnerns als solchem zuwendet, und dabei dessen vorgängig umgreifenden Charakter bemerkt, und, darauf aufmerksam geworden, diese Je-schon-Anwesenheit dieses Seins des Erinnerns nicht nur von außen reflektiert, sondern sich in dessen Inwendiges, in dessen Sein hineinbegibt, wird das herkünftig-inständige Erinnern, beziehungsweise, in der Sprache Hegels, der Geist als Geist an und für sich, zugänglich.

Auch wenn Hegel in der ENZYKLOPÄDIE Erinnern im wesentlichen nur als sozusagen psychologische Kategorie entwickelt (und unter dieser Vorgabe auch begrifflich scharf zwischen Vernunfterkenntnis und Erinnern trennt, ja sogar das zeichen-schaffende und deshalb für ihn spezifisch menschliche "Gedächtnis" über das lediglich "ganz natürliche" Erinnern stellt), so stehen doch zugleich an sehr hervorgehobener Stelle, am Ende der PHÄNOMENOLOGIE (vgl. S.590f.), die bemerkenswerten Sätze, die unmißverständlich auch auf das eigentliche Sein des Erinnerns weisen:

"Indem seine [des Geistes] Vollendung darin besteht, das, was er ist, seine Substanz, vollkommen zu wissen, so ist dies Wissen sein Insichgehen, in welchem er sein Dasein verläßt und seine Gestalt der Erinnerung übergibt (...) In ihr hat er ebenso unbefangen von vorn bei ihrer Unmittelbarkeit anzufangen und sich von ihr auf wieder großzuziehen, als ob alles Vorhergehende für ihn verloren wäre und er aus der Erfahrung der früheren Geister nichts gelernt hätte. Aber die Er-Innerung hat sie aufbewahrt und ist das Innere und die in der Tat höhere Form der Substanz".

Das Sich-Selbst-Erkennen des Geistes als das eigentliche Sein und das daraus resultierende "neue Dasein", von dem hier die Rede ist, ist also offenbar auch für Hegel - zumindest für den Hegel der PHÄNOMENOLOGIE - im Grunde ein inner-anamnestisches Ereignis. Im Selbstvollzug dieses Ereignisses wird sich der Geist/das herkünftige Erinnern auch eigens inne, daß im Wort "Erinnern" im Kern gleichsam jenes "absolutive" Präfix "er" (mhd. der Herr) steckt. "Er" ist das, was in Wahrheit je schon "innert". Nicht das Individuum ist wirklich der Herr und Souverän des Erinnerns/des Geistes, sondern "Er" ist das Subjekt und der Herr dieses Geschehens der eigentlichen "Er-Innerung". Daher ist eigentliches Erinnern auch nicht ein Verinnerlichen im bloßen Sinne von "Verschlingen von allem Nicht-Ich" durch ein sich selbstherrlich mit Generallvollmachten ausstattendem menschlichen Selbstbewußtsein, sondern vielmehr auch für Hegel je schon ein solches Erinnern, welches diese äußerliche Haltung gerade überwindet, welches den "heiligen Geist" als jenes "Er-Innern" erfährt, als jenes inständig-selbstische Sein also, das sich immer schon selbst seiner selbst als Sein innewird.

In dieser Eigentlichkeit und Seinshaftigkeit des "Er-Innerns" liegt indes aber ebenso notwendig beschlossen - was allerdings Hegels berühmter rationalistischer Impetus und systematischer Geist leicht in Vergessenheit geraten läßt -, daß es in Wahrheit gar kein vollständiges Wissen um, kein endgültiges Verfügen über dieses eigentliche (und eigenständige) Sein als Sein geben kann, sondern nur einen Prozeß der beständigen Annäherung des sich in sich vertiefenden Erinnerns. So daß Hölderlin mit allem Recht auch fragen darf:

"Ach! der Gott in uns ist immer einsam und arm. Wo findet er alle seine Verwandten? Die einst da waren, und da seyn werden? Wenn kömmt das große Wiedersehen der Geister? Denn einmal waren wir doch, wie ich glaube, alle beisammen (...)"(3 (167) Stück 190)

Auf diese Nicht-Verfügbarkeit weist wohl auch Heideggers Äußerung: "Der fundamentalontologische Grundakt der Metaphysik (...) (ist) eine Wieder-Erinnerung (...) Echte Erinnerung muß aber jederzeit das Erinnerte verinnerlichen, das heißt, es sich mehr und mehr in seiner innersten Möglichkeit wieder entgegenkommen lassen (...)">. Heidegger unterscheidet hier offenbar eine metaphysische Wieder-Erinnerung - also in seiner Terminologie eine bloß innerhalb jener geistesgeschichtlichen Überlieferungstradition sich bewegende Erinnerung, deren Leitfrage immer schon die Frage nach einem "voraus-gesetzten Sein" (als dem Sein als einem besonderen Seienden) sei - von einer tieferen "echten Erinnerung", die "das Erinnerte" (das Sein) sozusagen seinerseits "verinnerlicht", was man so verstehen kann, daß sich ein unmittelbares, ursprüngliches "Andenken" im Sinne Heideggers das Wesen des Seins selbst in seiner Inwendigkeit "entgegenkommen" läßt. Es geht offenbar gegen die - sich in Heideggers Verständnis immer wieder unwillkürlich neu einschleichende - Verdinglichung des Seins in Begriffen wie "Gott", "Idee", "Geist", die dann in der Folge nur noch uneigentlich wie ein beliebiges Ding oder ein beliebiger Name verwendet werden, von dem man fälschlich glaubt, sein Wesen, das doch in Wahrheit immer nur ursprünglich neu zu erfahren ist, je schon zu "wissen" oder zu kennen, so daß diese Begriffe diese entscheidende Erfahrung unter Umständen behindern oder gar verstellen.

Im Bereich der soeben angedeuteten wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Phänomen des Erinnerns könnte man demnach drei grundlegende Arten des Zugangs unterscheiden: einen psychologischen, der vor allem die Zusammenhänge und "Mechanismen" des Gedächtnisses und des Vergessens innerhalb der Individualpsyche und in Hinblick auf und "für" das Individuum untersucht; einen historischen, der in erster Linie die sozialgeschichtlichen Vermittlungsmomente und die Umstände des Gewordenseins des "kollektiven Gedächtnisses" in den Blick zu nehmen versucht; sowie einen philosophisch-phänomenologischen Zugang, dem tatsächlich das vorgängig-umgreifende Sein des Erinnerns als solches fragwürdig und Gegenstand wird und der insofern auch nicht mehr nur ein Reflektieren dieses Seins ist (und sein kann), sondern selbst schon eine unmittelbare inwendige "Teilnahme" an der Wahrheit und Wirklichkeit dieses Sein des Erinnerns ist.

Dieser phänomenologische Zugang ist auch derjenige dieser Studie, die sich insofern als ein Beitrag zur unmittelbaren Hermeneutik des Seins des Erinnerns versteht. "Hermeneutik der Anamnesis" bedeutet freilich immer schon selbst einen Akt ursprünglicher Anamnesis. Denn wenn Hermeneutik allgemein der Versuch ist, einen Gegenstand in seinem Sein zu verstehen, so erfordert dies nichts anderes, als dieses Sein ursprünglich wiederzuerinnern. Wenn dieser Gegenstand aber - wie hier der Fall - das Erinnern selbst ist, so heißt dies nichts anderes als das Sein des Erinnerns wiederzuerinnern. Das aber ist die Anamnesis. In diesem Sinne ist jedes phänomenologische Fragen im Grunde ein anamnestischer Vorgang, in besonderer Weise gilt dies aber für die vorliegende Fragestellung.

Doch jener gewiß nicht unbegründeten Mahnung Heideggers eingedenk und in Anbetracht der Aufgabe, zu allererst überhaupt einen Zugang zu diesem eigentlichen Sein des Erinnerns als jene hegelsche "Er-Innerung" freizulegen, sind hier zunächst einige unmittelbar zugängliche Momente und einige alltägliche und verbreitete Auffassungsweisen dieses Phänomens näher zu betrachten.



Anmerkungen:

(1) Vgl. H.J.Flechtner, Memoria und Mneme, Bd.1-3, Stuttgart 1974; - S.Freud, Gesammelte Werke, London 1948, Bd.2/3, S.545ff.; - A.Wellek, Ganzheitspsychologie und Strukturtheorie, Zehn Abhandlungen zur Psychologie und philosophischen Anthropologie, Bern 1955, S.133-149; - C.G.Jung, Gesammelte Werke, Bd.9 (I/II), hrsgb.v.L.Jung-Merker, 6.Aufl., Olten 1985

(2) Vgl. J.G.Droysen, Grundriss der Historik, Halle 1925; Droysen schreibt: "Er [der Geist] umleuchtet seine Gegenwart mit dem Schauen und Wissen der Vergangenheiten, die kein Sein und keine Dauer haben außer in ihm und durch ihn. Die Erinnerung schafft ihm die Formen und die Stoffe seiner eigensten Welt (...)" [vgl. S.9 (I / §6)], und er zitiert in diesem Zusammenhang Aischylos' PROMETHEUS DESMOTES (vgl.461), jenen Lobpreis auf das "Erinnern als wahrende Mutter allen Musenwerks"; an anderer Stelle heißt es: "Die historische Forschung setzt die Reflexion voraus, daß auch der Inhalt unseres Ich ein vermittelter (...) ist. Die erkannte Tatsache der Vermittlung ist die Erinnerung ", das heißt des Innewerdens der Vorgängigkeit des Erinnerns [vgl. ebd., S.13]

(3) Vgl. dazu das Dritte Kapitel; vgl. Lexikon für Theologie und Kirche, Freiburg 1960 (Stichwort "Gedächtnis"); -Th.Klausner (Hrsgb), Reallexikon für Antike und Christentum, Bd.VI, Stuttgart 1966 (Stichwort "Erinnerung"); - J.Assmann, Die Katastrophe des Vergessens, Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik, in: A.Assmann/D.Harth (Hrsgb.), Mnemosyne, Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, FfM. 1991, S.337ff.; - H.Jonas, Vergangenheit und Wahrheit, Ein später Nachtrag zu den sogenannten Gottesbeweisen, in: Scheidewege, Jg.20 (1990/91), S.1-13

(5) Vgl. M.Eliade, Das Heilige und das Profane, Vom Wesen des Religiösen, Hamburg 1957, Nachdruck 1984, S.78

(6) Vgl. A.N.Whitehead, Process and Reality, An Essay in Cosmology, N.Y./London 1929, Nachdruck 1941, S.63

(7) Vgl. F.W.J.Schelling, Werke, hrsgb.v.K.F.A.Schelling, Augsburg 1859ff., Bd.4, S.77; wobei der Begriff "Natur" hier - anders als bei Hegel, aber ähnlich wie bei Hölderlin - als die Ursprungs-Einheit von Sein und Seiendem, als Ursprungs-Sein verstanden ist (und nicht etwa als das dem Geist Entgegengesetzte, als res extensa oder gar das Dingliche).

(8) Vgl. ebd.,Werke, Bd.10, S.95

(9) Vgl. dazu Hegel, ENZYKLOPÄDIE, § 446 - § 465 (Hegels Werke werden nachfolgend verkürzt zitiert nach: G.W.F. Hegel, Werke, Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845, neu edierte Ausgabe v.E.Moldenhauer und K.M.Michel, FfM.1986)

(10) Vgl. ENZYKLOPÄDIE, § 451- § 454

(11) Vgl. M.H.,Kant und das Problem der Metaphysik, FfM.1973, 4.Aufl., S.224

(12) Daß Heidegger später das Denken - mit Hölderlin - überhaupt als "Andenken" entfaltet, wird im Zweiten Teil noch deutlicher. Insofern man aber sein "Metaphysik"-Verdikt auch auf Sokrates/Platons ursprünglich anamnestisches Philosophieren bezieht - gleichwohl Heidegger stets nur die "Ideen-Lehre" als solche kritisiert -, entsteht der Anschein, daß eben Heideggers Vorgabe selbst - "das Erinnerte selbst zu verinnerlichen", also die Notwendigkeit eines ursprünglichen Erinnerns des Seins des Erinnerns und des Herkunftsseins selbst - in Wahrheit nicht auch je schon das wäre, was, geradezu paradeigmatisch, das Philosophieren Platons ausmacht. (Vgl. dazu ferner: M.H., Hegel und die Griechen; in: Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken, Festschrift für Hans-Georg Gadamer zum 60.Geburtstag, Tübingen 1960, S.43-58; sowie: M.H., Hölderlins Hymne "Der Ister", Ffm.1984, S.34ff.)

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