Die Schrift, die Technik und das Vergessen

Zum Stand der digitalen Neu-Alphabetisierung

In einer Zivilisation, in der es so viele technische Mittel wie nie zuvor gibt, Informationen zu speichern, Wirklichkeit zu reproduzieren und Gestalten zu simulieren, stellt sich die Frage, ob der Mensch dabei nicht zwangsläufig grundlegend menschliche Fähigkeiten verlernt, immer zwingender. Schon in den fünfziger Jahren wies Günther Anders auf jene Touristen hin, die "nur das sehen, was sie fotografieren", weil für sie überhaupt nicht mehr das Gesehene das Wirkliche sei, sondern die zum "Eigentum gewordene Fotografie" selbst: Das "esse = percipi" hätten die Ärmsten durch ein trügerisches "esse = haberi" ersetzt, resümiert Anders. Um wieviel schärfer müßte sich diese Problematik erst angesichts der heutigen durch und durch "medialisierten" Welt, in der wir von neuer Technik und neuen Medien förmlich umstellt sind, eigentlich auftun. Werden also die authentischen und unmittelbaren Wahrnehmungen und, mehr noch, die ureigenen mentalen und Erinnerungsfähigkeiten des Menschen inzwischen weitgehend von diesem "Gestell" aus technischen Apparaturen "aufgesaugt"? Erleben wir die Enteignung unserer vertraut-paradoxen Welt durch Medien und Technik? Verschwindet der Mensch selbst zusehends im "Virtuellen"?

Zeichnet sich also ein tiefgreifender, universeller kultureller Umbruch ab, der sogar die epochale Erfindung des Buchdrucks in der frühen Neuzeit insofern übertrifft, als es hier nicht nur um neue und erweiterte Distributionsmöglichkeiten, sondern tatsächlich um eine Art Um- oder Neu-Alphabetisierung geht? Ein Kulturbruch also? Sucht man nach einer angemessenen Parallele zu diesem technischen Zauberwerk, so könnte man sie am ehesten in der Erfindung der Buchstaben finden. So wie die Buchstaben einst die natürliche Sprache in ein System mehr oder weniger willkürlicher Zeichen transformierten — dessen Erlernen, wie man bei Grundschülern beobachten kann, ungleich schwieriger ist als der spielerische Erwerb der eingeborenen Muttersprache —, so codiert auch der Rechner die analoge Welt in Raum und Zeit in das binäre Alphabet des Digitalen, mit dem Unterschied allerdings, das man dieses Alphabet, glaubt man den Erfindern, nicht einmal mehr beherrschen muß, um mit ihm arbeiten zu können. Eine wahre Zaubersprache also, die womöglich die mühsam erlernten und offenbar ständig reformierungsbedürftigen Schriftzeichen und am Ende sogar unsere Muttersprache überflüssig macht?

Doch seltsam: Was sich einerseits als die nahtlose Fortwucherung des technischen Erfindungseifers darstellt, droht gleichzeitig die Grundlage der bisherigen abendländisch-wissenschaftlichen Zivilisation zu eliminieren — die Lesekultur, so hört man allenthalben, sei in Gefahr, und damit die gesamte Tradition und unser Selbstverständnis, also die Werte die Bildung, die Kultur überhaupt. Von der Gefahr eines neuen Analphabetismus, vom Stolpern in eine Art moderne Barbarei, von den "Nintendo-Kids", die nicht mehr lesen, sondern nur noch "glotzen und zappen" könnten, geht die Rede. Und manche argwöhnen sogar, seitdem es die automatische Text-"Verarbeitung" für jeden gebe, gehe es mit der Sprachkultur im freien Sinkflug bergab, werde immer mehr und immer schlechter geschrieben, aber kaum noch etwas gründlich gelesen.

Geht es aber wirklich nur darum, daß man wieder einmal, wie schon bei der Einführung des Films und des Fernsehens, bildungsbürgerliche Werte bedroht sieht? Oder hat diese keineswegs unberechtigte Sorge diesmal noch handfestere Gründe und sind von weither tiefergreifende Umprägungen des Menschen, seines Selbstverständnisses und seines Daseins im Gange? Ist vielleicht die wahre Basis der abendländischen Zivilisation gar nicht die vielgelobte Schrift- und Lesekultur, sondern seit jeher die Technik gewesen? Oder, noch ernüchternder gefragt: Beginnt die technische Welthaltung vielleicht sogar mit diesen ersten großen teuthischen Erfindungen — der Schrift und den Zahlen — und mündet diese nun folgerichtig in jene neue digitale Um- und Neu-Alphabetisierung?

Zu beobachten ist immerhin, wie das wirtschaftliche Großprojekt der globalen "Vernetzung" wohl nicht ohne triftigen Grund unter dem philanthropen Banner eines universellen, kulturen- und sprachenübergreifenden "neuen Miteinanders", einer verstärkten und selbstverständlich gänzlich "demokratisierten Kommunikation" daherkommt. Redet man davon, wo der Schuh drückt? Als Steve Jobs und andere "Personal-Computer"-Pioniere zu Beginn der achtziger Jahre mit der republikanischen Losung "Jedem ein Computer!" gegen Industrieriesen wie IBM antraten, traten sie freilich, ohne sich dessen recht bewußt zu sein, zunächst einmal nur in die Fußstapfen Henry Fords, der ein Jahrhundert zuvor mit der gleichen Losung die Motortechnik "individualisiert" und damit einem Massenmarkt zugänglich gemacht hatte. Die weitreichenden Folgen dieser anfangs ebenfalls belächelten Idee sind hinreichend bekannt. Im Grunde ist der Computerindustrie strategisch bis heute kaum mehr eingefallen, als die Entwicklungsschritte der Automobil-Technologie nachzuahmen: Waren die ersten Großrechner die Eisenbahnen, so entsprechen die PC´s und Homecomputer den individuellen Kleinwagen, während der "Daten-Highway", wie der Name zumindest nahelegt, das dazu erforderliche Verkehrsnetz errichten soll, für dessen Benutzung man natürlich Gebühren zu entrichten hat. Hier wie da begann als — zunächst luxuriöses, später volkstümliches — Spiel und Faszination an einem technischen Wunderwerk, was volkswirtschaftlich bald bitterer Ernst wurde, sich verselbständigte und nachhaltig die Umwelt, die Rhythmen des Lebens, die Arbeits- und Verkehrsformen der Menschen revolutionierte.

Allein, der Computer ist, auch wenn man vom PC-Führerschein spricht, kein Fortbewegungsmittel wie das Auto und in ihm tut kein Motor seine Arbeit. Leider ersetzt er bisher weder den Autoverkehr, noch braucht man, nüchtern betrachtet, eine gebührenpflichtige "Autobahn", um dieses Gerät zu bedienen. Vielmehr arbeitet in ihm ein "Zaubermittel" in Form eines digitalen "Prozessors", einer winzig-riesigen enigmatischen Maschine, die gewohnte Zeichen und Signale unsichtbar in jenes neue und universelle digitale Alphabet, jene verborgene "Weltsprache" der Bits und Gigabytes übersetzt und gegebenenfalls wieder in die gewohnten Signale und Zeichen rückübersetzt. Die Frage, was an diesem Verschlüsselungsspiel — ähnlich dem Morsealphabet oder auch dem Buchstaben-Alphabet — eigentlich so reizvoll sein kann, daß es zunehmend als unverzichtbar gilt, ist gar nicht so selbstverständlich und unerheblich, wie es scheinen mag. Ist es wirklich der verwertbare Nutzen, der Kostensenkungseffekt, den dieser Verschlüsselungsprozeß unter Umständen abwirft? Oder liegt der Reiz zunächst und zuletzt doch eher in der Lust am Spielerischen und am Verschlüsseln als solchen?

In der Tat geht es bei der digitalen Technologie zunächst einmal, wie beim Telefon, um eine Spielart der Signal-Übermittlung und der Nachrichtentechnik. Beide Erfindungen sind — wie vielleicht alle großen technischen Erfindungen — im Umfeld des Kriegs- und Rüstungswesens entwickelt worden, wo die Nachrichtenübermittlung überlebenswichtig ist. Ein Ruf reicht nur einige hundert Meter weit, die in elektrische Impulse umgewandelten Schallwellen aber können über tausende Kilometer übertragen werden. Darauf beruht der Erfolg des Telefons. Der Computer nun kann nicht nur akustische, sondern viele andere Signale, wie Bilder oder Texte, auf diese Weise verschlüsseln, speichern oder übertragen. Insofern ist der Computer technologisch zwar vermutlich die geeignete Basis für die künftige Verschmelzung von Telefon, Fernsehgerät und Telefax, aber gegenüber diesen bereits vorhandenen Techniken nicht unbedingt etwas revolutionär Neues. Im Grunde haben wir es hier mit Technologien zu tun, die auf Rationalisierung, das heißt, auf quantitatives Wachstum, Ausdehnung und Eroberung zielen: Schon die Schrift macht die Botschaft von dem an Ort und Zeit gebundenen Redner/Zuhörer unabhängig, der Buchdruck erweitert diese Möglichkeiten, so wie — kriegs- oder nachrichtentechnisch betrachtet — auch der Film, das Telefon oder eben der Computer im Netz auf ihre Weise versuchen, über Raum und Zeit zu obsiegen, das heißt, überall und der schnellste zu sein. Da Krieg und Wettbewerbswirtschaft vieles gemein haben, kann man den nachrichtentechnischen Nutzen der digitalen Errungenschaften für den alltäglichen Wirtschaftskampf noch leicht nachvollziehen — doch was erklärt eigentlich den Erfolg des "Personal-Computers" in Friedenszeiten?

Beruht die populäre Euphorie des Digitalen auf einem Mißverständnis, auf bloßen Taschenspielertricks der Marketing- und Werbeabteilungen, auf dem bloßen Anschein des Neuen, insofern es nicht das Alte ist, also am Ende auf einer Art Massen-Hypnose? Vielleicht ist es so, aber das könnte man, aus hinreichender Distanz betrachtet, schließlich von den meisten "konvertierten" kriegstechnischen Erfindungen der Neuzeit sagen: Die Schallplatte ersetzte die Hausmusik, der heimische Videorecorder hält die versäumte Zuwendung zu den Kleinen fest, das Telefon macht die Besuche der Großmutter überflüssig, das Fernsehen substituiert die unmittelbare Erfahrung von Welt. Natürlich ist das eine ganz einseitige Sicht, denn was wäre die einsame Großmutter ohne das Fernsehen, der Fernreisende ohne Telefon, der Computer ohne Flugsimulator und der Flugkapitän ohne computergesteuerte Schubumkehr...

Auch die Aufgeregtheiten, die derartige technische Erfindungen zu begleiten pflegen, sind an sich noch kein hinreichender Beleg dafür, daß hier wirklich ein kultureller Umbruch seinen Weg nimmt. Man erinnere sich nur daran, wie unmittelbar sich die Surrealisten und Marinetti einst von neuen Fortbewegungsstechniken zu erregten Manifesten bewegen ließen. Ähnlich umtriebig reagierten die Impressionisten und Fauvisten auf die Erfindung der Fotografie oder die Kubisten und Expressionisten auf den jungen Film. Was speziell die Künstler an der digitalen Technik interessiert, scheint ohnehin weniger die ökonomisch verwertbare nachrichtentechnische Seite zu sein, als vielmehr die spielerischen Möglichkeiten, mit dem Computer neuartige, sogenannte "virtuelle" Welten zu schaffen, also die Hoffnung, bisher Unsichtbares sichtbar zu machen, bisher mangels geeignetem "Handwerkzeug" verborgen gebliebene Visionen zu offenbaren. Vermutlich werden die Chancen, welche eine Nachrichtentechnologie hierfür bietet, jedoch überschätzt, denn von Artefakten abgesehen, die eine Art Erweiterung der bizarren Welten darstellen, wie wir sie bisher aus Comics kannten, wartet man bisher auf die computergestütze Offenbarung, die aufgrund ihrer zukunftsweisenden Ästhetik aufhorchen und erstaunen ließe, noch vergeblich.

Und was das Modewort "Multimedia" betrifft, weiß man seit Dziga Vertov — der schon ähnliche Erfahrungen mit dem strukturell vielstimmigen Film machte, der die Möglichkeiten der Musik, des Theaters, der Literatur und der Malerei in sich vereinte —, daß die bloße Vermischung von Farben an sich noch nichts Neues oder gar Besseres schafft. Man darf insofern die Prognose wagen, daß die digitale Technik in den kommenden Jahren zwar auf dem Kunstmarkt für laute Auftritte sorgen und das Phänomen des Recyclings in der bildenden Kunst enorm befruchten, aber kaum die Aufgabe der Kunst selbst nachhaltig verändern dürfte, da es nicht in erster Linie die Werkzeuge und Materialien sind, die das Werk schaffen, sondern der Künstler, der diese in den Dienst einer besonderen Erfahrung stellt.

Was also erlaubt eigentlich die Annahme, daß die digitale Technologie dennoch einen kulturellen Umbruch und eine "Umalphabetisierung" bewirken könnte? Kann es nicht sein, daß sie so kläglich und leise im Sande verläuft wie andere technologische Großprojekte, etwa die Kernfusion oder SDI? Immerhin mehren sich bereits die Stimmen der Fachleute, die die Sicherheitsprobleme dieser Technologie für unbeherrschbar halten. Allerdings bietet die ökonomische Dynamik für solche Rückrufe einstweilen keine Anhaltspunkte. Vielmehr ist zu beobachten, wie die "Industrien von gestern", wie aufgetragene Kleider, im großen Stil in den Hinterhof der Dritten Welt ausgelagert werden — wie freilich auch die "digitale Knochenarbeit", wie Massen-Texterfassung, Routine-Programmierarbeit oder die Erstellung der nach wie vor unentbehrlichen, immer dickeren Handbücher, für die täglich Wälder gerodet werden. Das einst stählerne, Männerschweiß atmende Ruhrgebiet wandelt sich unter ministerieller Federführung zum digital-medialen Pixelpark, und im sonnigen Silicon Valley entwerfen chronisch unter Verfolgungswahn leidende Entwickler emsig die neuen Menschheitsbeglückungen und virtuellen Zukunftslandschaften. Ein unsichtbares, aber gigantisches Strahlennetz von Satelliten, Hunderten zunehmend austauschbarer Fernsehsender, Hochgeschwindigkeitsleitungen und Mobilfunksendern zieht sich mit immer engeren Maschen über dem Globus zusammen. Und mitunter beschleicht auch die Medien- und "Network"-Enthusiasten der ernüchternde Gedanke, daß Netze eigentlich zum Fangen da sind. Wer hier, vor der Hand, wem "ins Netz" geht, ist nicht einmal ein Geheimnis. Es sind eben jene, zunehmend verflochtenen Computer-, Telefon- und Medienriesen, die Unsummen in diesen Markt investieren und sich schon jetzt, wie man liest, goldene Nasen verdienen. Es ist also schlicht das Faktum dieser geballten ökonomischen Macht, die dazu zwingt, die kulturellen Folgewirkungen der digitalen Technologie illusionslos in den Blick zu nehmen.

Unter dem Werbeslogan einer angeblich totalen "Demokratisierung der Informationen" und einer "absoluten Selbstbestimmung" steht freilich auch, was — von den großen Banken abgesehen, die "das Netz" einstweilen meiden — seltsamerweise kaum noch zu beängstigen scheint, die Möglichkeit einer ebenso totalen Kontrolle ins Haus. Millionen von persönlichen Daten (mit Anschrift, Foto, Lebenslauf und Scheckkartennummer) werden, wofür gewisse Einrichtungen dankbar sein dürften, schon jetzt "im Netz" arglos abgelegt, — auch von Bekannten, die sich vor ein paar Jahren bei der Volkszählung nicht einmal anonym zählen lassen wollten. Stand der "unheimlichste aller Gäste" für Nietzsche noch vor der Tür, so empfängt man den Nihilismus inzwischen, wie es scheint, mit weit geöffneten Armen. Oder wie sonst soll man sich einen Reim darauf machen, daß eine Netz- und Informationstechnologie, die ursprünglich von CIA und Pentagon für den atomaren Ernstfall entwickelt wurde, bei einer zunehmenden Zahl von Akademikern, die überwiegend das Internet nutzen, nur noch als Garantiebeweis dafür zu gelten scheint, daß es "auch gut funktioniert"? Oder spielen derlei Überlegungen längst keine Rolle mehr und zeigt sich auch in dieser Sorglosigkeit die drohende globale Entwertung des Wortes, der Sprache — und der Persönlichkeit?

Wenn McLuhan in den sechziger Jahren angesichts der sich abzeichnenden Revolution in der Medientechnologie noch von der Tendenz zum "globalen Dorf" sprechen konnte, so zeigt sich vom heute erreichten Stand das panische Tempo der Entwicklung auch daran, daß man eher geneigt ist, vom Bau eines gigantischen potemkinschen Dorfes und einer global-totalen Atomisierung zu sprechen. Die "Netz"-Welten, die man fortwährend wie die Erfüllung der geheimsten Kinderwünsche verspricht, drohen zur Spiegelung und Potenzierung jener "schlechten Unendlichkeit" zu werden, von der Hegel sprach, zur unendlichen Konfrontation mit dem Beliebigen, Unüberschaubaren und "digitalen Alles-und-Nichts" zu geraten.

Der Lärm des TV-Geredes wächst proportional mit dem Verlust der realen Gesprächsfähigkeit und dem Niedergang einer Kultur des Wortes. Alle, die dasselbe zu sagen haben, reden mit, oder haben, bei allen sonstigen schlechten Zukunftsaussichten, zumindest ihr eigenes »Schaufenster zur Welt«, die Homepage. Der Medien-, Informations- und Kommunikations-Markt boomt. Die Frage, ob den täglich neuen Angeboten Bedürfnisse zugrundeliegen, oder vielmehr nachhaltige kulturelle Flurschäden zu befürchten sind, dringt nicht mehr an die Fronten des Geschehens. Als naive, überholte und querulantenhafte Ressentiments von »Bedenkenträgern« — so weit sind wir schon, daß Nachdenklichkeit staatsgefährdend wird — gelten Fragen wie: Wie kann die wachsende Nachfrage dieser Medien nach Konsumenten und deren Abtretung von Lebenszeit überhaupt befriedigt werden, da sie doch am Ende so wenig wie die graugesichtigen Herren von der »Zeit-Sparkasse« in Michael Endes Momo die Grenzen unserer ureigenen Lebenszeit aufheben können?

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